Schwarzer Kuss Der Nacht
ihm fest.
»Wahrscheinlich ist es nichts«, versuchte er, sie zu beruhigen.
Was zwecklos war.
Wieder ächzte der Aufzug, dann blieb er stehen. Sie wagten beide nicht, zu atmen, während sie warteten. Entsprechend klang das Ploppen, das sie einen Moment später hörten, wie eine kleine Explosion.
Mai schrie auf.
Ein zweites Ploppen ertönte, und die Kabine setzte sich in Bewegung – schneller und schneller.
Keine Sicherheitsbremsen kreischten. Nichts stoppte den Fahrstuhl in seinem freien Fall, zwölf Stockwerke tief.
Kapitel 21
Mai war klar, dass sie nur noch Sekunden zu leben hatte. Die strahlende Zukunft, die sie sich mit Nick ausgemalt hatte, würde es nie geben. Der Traum von ihm in der letzten Nacht war alles, was sie bekam. Und das reichte ihr nicht.
Sie umklammerte Nick und dachte ans Meer. Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf kühles Wasser und schöpfte Magie aus den tiefsten Winkeln ihrer Seele. Dann betete sie zu jeder Gottheit, die sie kannte, sie möge ihr diesmal jene magische Kraft verleihen, die sie einst für selbstverständlich genommen hatte.
Als Metall sich schrill an Metall rieb, hielt Mai Nick noch fester und wünschte sie beide in kristallblaue Tiefen.
Die Wucht des Aufpralls raubte ihr den Atem. Sie rang nach Luft, schmeckte jedoch plötzlich Salzwasser. Sofort spuckte sie es aus und ruderte mit Armen und Beinen, um an die Oberfläche zu kommen. Sie fühlte sich, als wäre sie von einem Lastwagen überrollt worden. Sämtliche Knochen taten ihr weh, aber kaum hatte ihr Kopf die Wasseroberfläche durchbrochen und ihre Lunge wieder Sauerstoff bekommen, wurde Mai bewusst, dass sie noch sehr lebendig war.
Nick! Panisch blickte sie sich um. Hatte sie ihn mit ihrer Magie retten können? Oder war nur sie gerettet, und er lag in diesem Moment unter den Trümmern der Fahrstuhlkabine?
Ein Platschen hinter ihr ließ sie herumwirbeln. Sie sah, wie ein dunkler Kopf auftauchte. »Nick!«
Er drehte sich zu ihr und warf ihr ein Lächeln zu. Sie waren unweit voneinander gelandet, und Mai war so unendlich froh, dass sie mit wenigen Schwimmzügen bei ihm war und ihn umarmte, worauf sie beide fast wieder untergingen.
»Das war ein echt höllischer Trip, Baby! Bist du okay?«, fragte Nick.
»Jetzt ja.« Sie beugte sich ihm entgegen, als seine Lippen sich ihren näherten.
Ihr Kuss war gleichzeitig verzweifelt und leidenschaftlich. Sekunden zuvor hatten sie beide gedacht, sie müssten sterben. Nun lebten sie. Entsprechend war ihr Kuss ebenso sehr ein Lebensbeweis wie eine Liebeserklärung.
Mais Gedanken hielten abrupt inne.
Liebe
. Es war das erste Mal, dass sie das Wort benutzte, um ihre Gefühle für Nick zu beschreiben, und sie erschrak ein wenig ob der wahren Tiefe ihrer Empfindung. Wahrscheinlich wäre sie noch schockierter gewesen, hätte sie letzte Nacht nicht von Nick geträumt. Offenbar war ihr Unterbewusstsein sich längst darüber im Klaren, was sie fühlte.
Der Kuss endete, und Nick ließ sie los, damit sie beide Wasser treten konnten. »Ich dachte wirklich, jetzt wäre alles vorbei«, gab er zu, »denn ich wusste nicht, wie wir das Unvermeidliche umgehen sollten, und ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass ich keine Chance mehr bekommen würde, dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.«
»Was?!« Mai war nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte.
»Ich weiß, dass wir uns noch nicht besonders lange kennen, und, bei Gott, ich hatte niemals vor, zu heiraten, aber das war, bevor ich dir begegnet bin.«
»Nick, ich …«
»Nein, lass mich erst ausreden! Erinnerst du dich, wie ich dir erzählte, dass mein Volk an Geistverwandte glaubt, an den vollkommenen Menschen für jeden, die zwei Geister, die sich finden und gemeinsam stärker sind als allein?«
Sie nickte. Ja, sie erinnerte sich an so ein Gespräch.
»Gut, und du bist meine Geistverwandte.«
»Woher weißt du das?«
»Weil dein Geist mich im Traumreich gerufen hat, und ich kam. Ich werde immer kommen. Beim ersten Mal habe ich dich vor einem Keltok gerettet, der dich angriff. Ich weiß, dass du dich daran erinnerst. Und seither bin ich immer wieder in deinen Träumen.«
Unwillkürlich dachte Mai an die erotischen Träume der letzten paar Tage. War der Mann, mit dem sie Traumsex gehabt hatte, wirklich Nick gewesen? »Was ist mit der anderen Frau, die du erwähnt hast?«
Er lächelte. »Das warst die ganze Zeit du, nur wusste ich es nicht. Ich begriff nicht, dass die Frau, von der ich träumte, real war.
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