Schwarzer Mittwoch
Eltern haben wir uns natürlich schon vorgenommen, aber jedes Kind besitzt auch einen eigenen Laptop, ganz zu schweigen von ein paar ausgedienten alten Kisten, die offensichtlich nicht mehr funktionieren, aber trotzdem nicht weggeworfen wurden.«
»Wir haben es hier mit einer Frau zu tun, die sich zehn Jahre lang mit ihrem Geliebten in einer eigens dafür gemieteten Wohnung traf. Hatte sie beispielsweise einen Schlüssel für die Wohnung? Und existieren nicht doch irgendwelche Dokumente, die ein wenig Licht auf die ganze Sache werfen? Hat sie tatsächlich nie Mails oder Kurznachrichten an ihren Geliebten verschickt oder welche von ihm erhalten? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass diese Affäre etwas mit ihrem Tod zu tun haben muss, aber vielleicht gibt es da ja noch etwas anderes.«
Yvette bedachte ihn mit einem sarkastischen Lächeln.
»Soll das heißen, nachdem sie zum Ehebruch fähig war, fragen Sie sich, was sie sonst noch alles angestellt haben könnte?«
»So extrem habe ich das nicht gemeint.«
Während sie dort im Schlafzimmer standen, ging Karlsson durch den Kopf, dass sie so vieles über Ruth Lennox wussten, gleichzeitig aber keine Ahnung von ihr hatten. Sie wussten, welche Zahnpasta und welches Deodorant sie verwendete. Sie kannten ihre BH -Größe ebenso wie die Größe ihrer Slips und ihrer Schuhe. Sie wussten, welche Zeitschriften sie las, welche Gesichtscreme sie benutzte, welche Kochrezepte sie interessierten, was sie jede Woche in ihren Einkaufswagen legte, welchen Tee sie bevorzugte, welchen Wein sie trank, welche Fernsehsendungen sie mochte und welche Bücherkassetten sie besaß. Sie waren mit ihrer Handschrift vertraut, wussten, welche Kugelschreiber und Bleistifte sie zum Schreiben genommen hatte, kannten die Kritzeleien auf den Rändern ihrer Notizblöcke und studierten ihr Gesicht auf den Fotografien im Haus und in sämtlichen Alben. Sie lasen die Postkarten, die ihr Dutzende von Freunden in Dutzenden von Jahren aus Dutzenden von Ländern geschrieben hatten. Sie stöberten durch Muttertags-, Geburtstags- und Weihnachtskarten, gingen mehrfach ihre gesamte Mailkorrespondenz durch und waren sich ganz sicher, dass sie niemals Facebook, Linked in oder Twitter benutzt hatte.
Trotzdem hatten sie keine Ahnung, warum und wie sie zehn Jahre lang eine Affäre direkt vor der Nase ihrer Familie am Laufen gehalten hatte. Sie wussten nicht, ob sie deswegen Schuldgefühle empfunden hatte, und ebenso wenig wussten sie, warum sie hatte sterben müssen.
Einer spontanen Eingebung folgend, schob Karlsson die Tür zu Doras Zimmer auf. Das Mädchen war inzwischen zu ihrem Vater gegangen. In ihrem Zimmer war es sehr sauber und still. Alles lag an seinem angestammten Platz: die Wäsche ordentlich zusammengelegt in den Schubladen, das Papier gestapelt auf dem Schreibtisch, die Bücher für die Hausaufgaben in den Regalfächern darüber, ihr Schlafanzug gefaltet auf dem Kissen. Im Schrank hingen ihre Sachen – Kleidungsstücke eines Mädchens, das noch kein Teenager sein wollte – über paarweise aufgereihten, praktischen Schuhen. Allein schon der Anblick dieser krampfhaften Ordnung stimmte Karlsson irgendwie traurig. Eine schmale, rosafarbene Spindelform oben auf dem Schrank erregte seine Aufmerksamkeit. Er streckte die Hand danach aus und zog eine Lumpenpuppe herunter, bei deren Anblick er nach Luft schnappte. Sie hatte ein flaches, rosarotes Gesicht, lange, schlappe Beine und rote Baumwollzöpfe, aber ihr Bauch war herausgeschnitten und der Bereich zwischen den Beinen aufgeschnippelt. Ein paar Augenblicke lang hielt er die Puppe wie erstarrt in der Hand und betrachtete sie mit grimmiger Miene.
»Ach, du lieber Himmel!« Yvette war hinter ihm in den Raum getreten. »Das ist ja schrecklich!«
»Ja, nicht wahr?«
»Glauben Sie, das hat sie selbst gemacht? Wegen der Dinge, die sie über ihre Mutter erfahren hat?«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Die arme Kleine.«
»Trotzdem werde ich sie danach fragen müssen.«
»Ich glaube, ich habe auch etwas gefunden. Sehen Sie.« Sie öffnete ihre Hand, in der sich ein mit Ziffern bedruckter Tablettenblister befand. Karlsson kniff die Augen zusammen. »Das war in dem langen Schrank neben dem Badezimmer versteckt – dem mit den Handtüchern, Waschlappen, Badelotionen, Tampons und dem ganzen anderen Kram, den sie sonst nirgendwo untergebracht haben.«
»Und?«
»Die Pille«, erklärte Yvette. »In einer Socke.«
»Seltsamer Platz, um Verhütungsmittel
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