Schwarzer Mittwoch
Reeve?«
Sasha wusste über Dean Reeve Bescheid: den Mann, der einen kleinen Jungen entführt und Frieda gegen ihren Willen in die Welt hinausgezerrt hatte – fort von der Sicherheit ihres Sprechzimmers und den seltsamen Geheimnissen des menschlichen Geistes. Sasha hatte Frieda sogar geholfen, indem sie durch einen DNA -Test nachwies, dass Deans Ehefrau Terry in Wirklichkeit die kleine Joanna war, die zwei Jahrzehnte zuvor spurlos verschwunden war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Für Frieda stand inzwischen fest, dass Dean Reeve, der für die Polizei längst als tot galt, doch noch lebte. Er war ihr unsichtbarer Verfolger geworden: der Tote, der über sie wachte und sie niemals in Ruhe lassen würde.
»Ja, Dean Reeve. Ich kenne seine Handschrift. Ich habe sie auf einem Aussageprotokoll gesehen, das er damals auf dem Polizeirevier unterschreiben musste. Aber selbst wenn ich die Schrift nicht kennen würde, wäre mir klar, dass nur er infrage kommt. Auf diese Weise will er mir mitteilen, dass er über meine Familie Bescheid weiß. Darüber, wie mein Vater ums Leben gekommen ist. Er war hier, wo wir jetzt stehen, am Grab meines Vaters.«
»Dein Vater liegt auf einem normalen Friedhof begraben. Dabei dachte ich, du wärst Jüdin«, stellte Sasha fest.
Sie saßen in einem kleinen Café mit Blick aufs Meer. Es war gerade Ebbe. Langbeinige Seevögel staksten über die nass glänzenden Schlammflächen. Weit draußen schob sich ein Containerschiff von der Größe einer Stadt den Horizont entlang. Sie waren die einzigen Gäste in dem Café, und auch der Strand war menschenleer. Sasha fühlte sich wie am Ende der Welt.
»Wirklich?«
»Ja. Du bist also keine?«
»Nein.« Frieda zögerte einen Moment. Es fiel ihr sichtlich schwer weiterzusprechen. »Mein Großvater war jüdischen Glaubens, meine Großmutter jedoch nicht, deswegen waren seine Kinder keine Juden mehr, und für mich gilt das natürlich erst recht. Meine Mutter«, fügte sie trocken hinzu, »hat definitiv nichts Jüdisches an sich.«
»Lebt sie noch?«
»Wenn meine Brüder nicht vergessen haben, mich über ihr Ableben zu informieren, ja.«
Sasha beugte sich blinzelnd vor.
»Brüder?«
»Ja.«
»Du hast mehr als nur einen?«
»Ja, zwei.«
»Du hast immer nur von David gesprochen. Ich hatte keine Ahnung, dass es noch einen zweiten gibt.«
»Es war nicht von Bedeutung.«
»Nicht von Bedeutung? Ein Bruder?«
»Über David weißt du auch nur Bescheid, weil er Olivias Ex und Chloës Vater ist.«
»Verstehe«, murmelte Sasha, die klug genug war, jetzt nicht nachzuhaken. Ihr ging durch den Kopf, dass sie in den vergangenen paar Stunden mehr über Friedas Leben erfahren hatte als während der ganzen bisherigen Dauer ihrer Freundschaft.
Nachdenklich stach sie in ihr pochiertes Ei und beobachtete, wie der Dotter hervorquoll und sich auf den Teller ergoss.
»Was wirst du jetzt unternehmen?«, wandte sie sich schließlich wieder an Frieda.
»Das weiß ich noch nicht. Außerdem, hast du es denn noch nicht gehört? Er ist tot.«
Während der Rückfahrt sprach Frieda kaum ein Wort. Als Sasha sie fragte, woran sie gerade denke, gab sie ihr zunächst keine Antwort.
»Tja«, meinte sie schließlich, »eigentlich nichts Bestimmtes.«
»Von einem deiner Patienten würdest du das aber nicht als Antwort akzeptieren.«
»Als Patientin habe ich noch nie viel getaugt.«
Nachdem Sasha gefahren war, sperrte Frieda die Haustür auf. Drinnen schloss sie wieder ab, legte die Kette vor und verriegelte die Tür zusätzlich. Dann ging sie nach oben ins Schlafzimmer, wo sie ihre Jacke auszog und aufs Bett warf. Sie würde ein langes, heißes Bad nehmen und dann in ihr kleines Arbeitszimmer unter dem Dach hinaufsteigen und eine Zeichnung anfertigen: sich konzentrieren und dabei trotzdem an nichts denken. Vor ihrem geistigen Auge tauchte der Friedhof auf. Die verlassene Küstenlandschaft. Rasch zog sie sich den Pulli über den Kopf. Als sie gerade ihre Bluse aufknöpfen wollte, hielt sie plötzlich inne. Sie hatte etwas gehört, war aber nicht sicher, ob es ein Geräusch im Haus war oder ein viel lauteres, weiter entferntes, das von draußen kam. Sie blieb mucksmäuschenstill stehen und hielt sogar den Atem an. Da hörte sie es wieder, ein leises Schaben. Es kam aus dem Haus, noch dazu aus dem Stockwerk, in dem sie sich gerade befand. Inzwischen konnte sie es fast vibrieren spüren. Sie dachte an die verriegelte Haustür mit der vorgelegten Kette und versuchte
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