Schwarzer Mittwoch
begriffen. Genau so waren solche Wohnanlagen gedacht. Sie sollten aussehen wie das italienische Städtchen, in dem der Architekt seinen Urlaub verbracht hat: mit lauter kleinen Plätzen, wo Kinder spielen können, Plätzen für Märkte und Jongleure und lauschigen Passagen, wo sich die Leute begegnen, plaudern und Abendspaziergänge unternehmen können. Nur leider hat das hier nicht so recht funktioniert.«
»Es ist wie in Kiew«, erklärte Josef, »bloß dass diese Häuser nicht so viel taugen, wenn es zwanzig Grad minus hat.«
Sie erreichten Spenser Court und stiegen eine Treppe in den dritten Stock hinauf, wobei sie sich einen Weg durch lauter alte Fast-Food-Behälter bahnen mussten. Langsam gingen sie die Galerie entlang. Josef warf einen Blick auf die Visitenkarte und dann auf die Wohnung vor ihm. Das Fenster neben der Tür war mit Metallstäben gesichert und von innen zusätzlich mit Pappe verschlossen, weil die Scheibe fehlte.
»Hier ist es«, stellte er fest. »Da fällt es einem schwer, in Stimmung für Sex zu kommen.«
»So war das immer schon, zumindest hier in London.«
»In Kiew auch.«
»Wir müssen in ganz ruhigem Ton mit ihr sprechen«, sagte Frieda, »damit sie keine Angst bekommt.«
Sie klingelte. Drinnen rührte sich etwas. Frieda warf einen Blick zu Josef. Empfand er das Gleiche wie sie? Eine seltsame Mischung aus Übelkeit und Schuldgefühlen wegen der Dinge, die in ihrer Stadt vor sich gingen? Oder war sie nur prüde oder naiv? Sie wusste doch, dass es auf der ganzen Welt so lief. Josefs Miene wirkte auf eine gelassene Weise erwartungsvoll. Drinnen fummelte jemand an einer Kette herum, dann ging die Tür einen Spalt weit auf, und Frieda erhaschte einen Blick auf das Gesicht hinter der dicken Kette: jung, sehr klein, Lippenstift, blondiertes Haar. Als Frieda zu reden begann, wurde die Tür zugeschlagen. Sie wartete darauf, dass die junge Frau die Kette lösen und die Tür richtig öffnen würde, doch es blieb still. Sie und Josef sahen sich an. Frieda klingelte noch einmal, doch es kam keine Reaktion mehr. Sie beugte sich hinunter zum Briefschlitz und spähte hinein. Irgendetwas versperrte ihr die Sicht.
»Wir wollen nur mit Ihnen reden«, erklärte sie. Da noch immer keine Reaktion erfolgte, reichte sie Josef ihr Telefon. »Versuch sie anzurufen. Sag ihr, wer du bist.«
Er starrte Frieda verwirrt an.
»Wer bin ich denn eigentlich?«
»Sag ihr, dass du der Mann bist, der sich mit ihr verabredet hat.«
Er rief an und wartete.
»Soll ich eine Nachricht hinterlassen?«, fragte er.
»Nein, spar dir die Mühe. Wahrscheinlich glaubt sie, wir sind von der Einwanderungsbehörde oder der Polizei – auf jeden Fall Leute, die ihr Schwierigkeiten bereiten wollen.«
»Das liegt an dir.«
»Was?«
»Es liegt an dir. Sie sieht eine Frau und glaubt, wir wollen ihr etwas tun.«
Frieda beugte sich über das Geländer und blickte hinunter.
»Du hast recht«, antwortete sie, »das war ein blöder Plan. Es tut mir leid, dass ich dich völlig umsonst hier rausgeschleppt habe.«
»Nein, nicht umsonst. Ich behalte dein Telefon. Gib mir den Stadtplan. Du gehst zurück in das Café und bestellst dir einen schönen Tee und Kuchen. In einer Stunde komme ich nach.«
»Das kann ich nicht von dir verlangen, Josef. Das ist nicht richtig, und gefährlich ist es auch.«
Josef lächelte.
»Gefährlich? Weil du mich nicht beschützt?«
»Es erscheint mir nicht richtig.«
»Nun geh schon.«
Als sie wieder auf der Carey Road standen, nahm Frieda ein paar Geldscheine aus ihrer Brieftasche und reichte sie Josef.
»Du solltest die Frauen fragen, ob sie ein Mädchen namens Lily Dawes kennen. Lila. So hat sie sich meistens genannt. Ich wünschte, ich hätte ein Foto, das ich ihnen zeigen könnte, aber ich weiß nicht, wo ich eines herbekommen soll. Gib ihnen auf jeden Fall zwanzig Pfund, und weitere zwanzig, wenn sie dir etwas sagen. Meinst du, das ist genug? Ich kenne mich in solchen Dingen nicht aus.«
»Ich glaube, das reicht.«
»Und sei vorsichtig.«
»Immer.«
Frieda ließ ihn zurück. Als sie sich nach ein paar Schritten noch einmal umdrehte, telefonierte er bereits.
Zurück im Café, sank sie auf einen Stuhl und bestellte eine weitere Tasse Tee, die sie jedoch nicht anrührte. Am liebsten hätte sie den Kopf in die Hände gestützt und auf der Stelle geschlafen. Sie überlegte, ob sie ein bisschen lesen oder einfach die Gedanken schweifen lassen sollte. Schließlich zog sie ihren Skizzenblock aus
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