Schwarzer Mittwoch
in der sie kaum unterscheiden konnte, wann sie wach lag und wann nicht, weil ihre Gedanken wie Träume waren und ihre Träume wie Gedanken: durchweg albtraumhaft. Sie hatte das Gefühl – oder träumte davon –, dass sie sich auf einer Reise befand, die zugleich eine Art Hindernislauf darstellte. Und erst, wenn sie alle Hindernisse überwunden und alle Aufgaben gelöst hatte, würde man ihr am Ende erlauben zu schlafen. Sie dachte an die Fotos der Mädchen, die an Fearbys Wand hingen, und ihre Gesichter vermischten sich mit denen von Ted, Judith und Dora Lennox, die alle von oben auf sie herabblickten.
Ab etwa halb vier lag sie endgültig wach. Niedergeschlagen starrte sie zur Decke empor. Um halb fünf stand sie auf, ging ins Badezimmer und ließ sich ein Bad ein. Während sie in der Wanne lag, sah sie zu, wie die Ränder der Fensterjalousie langsam hell wurden. Sie trocknete sich mit dem Handtuch ab, das am wenigsten benutzt aussah, und schlüpfte wieder in ihre getragenen Sachen. Als sie aus dem Bad kam, schenkte Fearby gerade Kaffee in zwei Tassen.
»Ein Luxusfrühstück kann ich Ihnen nicht bieten«, sagte er, »aber um sieben könnte ich Brot und ein paar Eier besorgen.«
»Kaffee reicht mir«, sagte Frieda, »und danach sollten wir aufbrechen.«
Fearby packte ein Notizbuch, eine Aktenmappe und ein kleines digitales Aufnahmegerät in eine Umhängetasche, und binnen einer halben Stunde befanden sie sich wieder auf der Autobahn Richtung Süden. Eine ganze Weile schwiegen sie. Frieda schaute aus dem Fenster. Schließlich wandte sie sich Fearby zu.
»Warum tun Sie das eigentlich?«, fragte sie.
»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, antwortete er. »Am Anfang ging es mir um George Conley.«
»Aber der ist doch inzwischen auf freiem Fuß«, entgegnete Frieda, »und zwar dank Ihnen. So etwas schaffen die wenigsten Journalisten.«
»Ich hatte das Gefühl, dass das nicht reichte. Er kam ja nur wegen eines Verfahrensfehlers frei. Als er dann endlich draußen war und alle jubelten und feierten und die Medien sich um ihn rissen, fehlte mir irgendwie der richtige Abschluss. Ich hatte das Bedürfnis, die ganze Geschichte zu erzählen und zu beweisen, dass Conley wirklich unschuldig ist.«
»Ist das auch Conleys Wunsch?«
Fearby überlegte einen Moment.
»Ich habe ihn besucht. Er ist ein gebrochener Mann. Ich glaube nicht, dass er noch in der Lage ist, in Worte zu fassen, was er sich wünscht.«
»Beim Anblick Ihres Hauses würden manche Leute wahrscheinlich auch von Ihnen sagen, dass Sie ein gebrochener Mann sind.«
Frieda rechnete damit, dass Fearby wütend werden oder sich verteidigen würde, aber er wandte ihr nur grinsend das Gesicht zu.
»›Würden‹?«, wiederholte er. »Das haben schon einige gesagt. Allen voran meine Frau und meine Kollegen. Meine ehemaligen Kollegen.«
»Ist es das wert?«, erkundigte sich Frieda.
»Ich erwarte keinen Dank. Ich muss es einfach wissen. Geht es Ihnen nicht auch so? Nachdem Sie nun die Fotos der Mädchen gesehen haben, wollen Sie da nicht auch herausfinden, was mit ihnen passiert ist?«
»Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass zwischen den Bildern an Ihrer Wand unter Umständen gar keine Verbindung besteht – oder höchstens die, dass es sich einfach um bedauernswerte, traurige Mädchen handelt, die alle als vermisst gelten?«
Wieder schaute Fearby sie an.
»Ich dachte, Sie stehen auf meiner Seite.«
»Ich stehe auf gar keiner Seite«, erwiderte Frieda. Sie runzelte einen Moment die Stirn. »Manchmal glaube ich, ich stehe nicht mal auf meiner eigenen Seite. Unser Gehirn ist auf die Suche nach Mustern programmiert. Deswegen entdecken wir Tiergestalten in Wolkenformationen. In Wirklichkeit sind es einfach nur Wolken.«
»Und deswegen sind Sie bis nach Birmingham mitgekommen? Und schleppen mich jetzt zurück nach London?«
»Mein Job ist es, mir anzuhören, welche Muster die Menschen aus ihrem Leben machen. Manchmal sind es schädliche Muster oder eigensüchtige, oder selbstzerstörerische, und manchmal auch einfach falsche. Machen Sie sich je Gedanken darüber, was wäre, wenn sich herausstellen würde, dass Sie sich irren?«
»Vielleicht ist das Leben gar nicht so kompliziert. Georgie Conley wurde wegen des Mordes an Hazel Barton verurteilt. Aber er war es nicht, was bedeutet, dass es ein anderer gewesen sein muss. Also, wohin in London wollen wir?«
»Ich gebe die Adresse in Ihr Navi ein.«
»Das wird Ihnen gefallen«, meinte Fearby. »Es spricht mit der
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