Schwarzer Mittwoch
Gefällt es Ihnen auf dem Land nicht?«
»Meiner Meinung nach sollte sich jeder überlegen, wo er leben möchte, und eine bewusste Wahl treffen.«
»Verstehe«, antwortete Fearby. »Ich bin da eher passiv. Sie haben Ihre Wahl getroffen, vermute ich.«
»Ich wohne mitten in London.«
»Weil es Ihnen da gefällt?«
»Zumindest kann ich da ruhig und zurückgezogen leben, während draußen das Leben weitergeht.«
»Vielleicht empfinde ich sogar so ähnlich, was mein kleines Haus betrifft. Für mich ist es unsichtbar. Ich bemerke es überhaupt nicht mehr. Es ist für mich nur ein Ort, an den ich mich zurückziehe. Als Journalist war ich ja viel unterwegs. Was machen Sie eigentlich beruflich?«
»Ich bin Psychotherapeutin.«
Fearby wirkte verblüfft.
»Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«
Wie es aussah, war ihm selbst nicht bewusst, in welch erbärmlichem Zustand sich sein Haus befand. Die ursprünglich gekieste Zufahrt war fast ganz mit Geißfuß, Löwenzahn und Gras zugewachsen. Die Fenstersimse wirkten verwittert, die Scheiben dreckig. Über allem lag eine Schicht aus Staub, Russ und Schmutz, die von jahrelanger Vernachlässigung zeugte. Auf dem Tisch stapelten sich vergilbende Zeitungen, zum Essen wurde er offensichtlich nicht benutzt. Als Fearby auf der Suche nach Milch die Kühlschranktür öffnete – ohne fündig zu werden –, fiel Frieda auf, dass sein Kühlschrank abgesehen von Bierdosen so gut wie nichts enthielt. Es handelte sich eindeutig um das Haus eines Mannes, der allein lebte und keinen Besuch erwartete.
»Tee gibt es also nicht«, erklärte er. »Wie wär’s mit Whisky?«
»Ich trinke tagsüber keinen Alkohol.«
»Heute ist ein besonderer Tag.«
Er schenkte für sie beide jeweils zwei Fingerbreit in angelaufene Gläser und reichte Frieda eines davon.
»Auf unsere vermissten Mädchen«, sagte er, als er mit ihr anstieß.
Obwohl Frieda nur einen winzigen Schluck nahm, damit er nicht allein trinken musste, brannte ihr davon sofort der Hals.
»Sie wollten mir zeigen, was Sie herausgefunden haben.«
»Das ist alles in meinem Arbeitszimmer.«
Als er die Tür aufmachte, war Frieda ein paar Augenblicke sprachlos. Ihre Augen mussten sich erst an die Mischung aus Obsession und Ordnung gewöhnen. Im ersten Moment fühlte sie sich fast an Michelle Doyce erinnerte, die Frau, die Karlsson ihr vorgestellt hatte und die in ihrer Wohnung in Deptford den Abfall aus anderer Leute Leben gesammelt und sorgfältig kategorisiert hatte.
In Fearbys Arbeitszimmer fiel nur wenig Tageslicht, weil auf dem Sims des – ohnehin schon halb blinden – Fensters Papier aufgestapelt war, zum Teil zu bedenklich schiefen Türmen: Zeitungen, Zeitschriften und Ausdrucke. Auch auf dem Boden stapelten sich die Zeitungen. Es war fast unmöglich, sich einen Weg zu dem langen Tisch zu bahnen, der ihm als Schreibtisch diente und ebenfalls fast verschwand unter Unmengen von Zetteln, alten Notizbüchern, zwei Computern, einem Drucker, einem altmodischen Fotokopiergerät, einer großen Kamera, bei der die Linse fehlte, sowie einem schnurlosen Telefon – ganz zu schweigen von den beiden angeschlagenen Untertassen voller Zigarettenkippen und etlichen benutzten Gläsern und leeren Whiskyflaschen. An der Tischkante klebten Dutzende gelber und rosaroter Haftnotizen, auf die Zahlen oder Worte gekritzelt waren. Als Fearby die schwenkbare Schreibtischlampe einschaltete, fiel ihr Licht auf die Papierkopie eines Fotos: das lächelnde Gesicht einer jungen Frau. Einer ihrer Vorderzähne war leicht angeschlagen. Frieda musste an Karlsson denken, der auch so einen angeschlagenen Vorderzahn hatte und sich gerade viele Kilometer von ihr entfernt aufhielt.
Was sie so faszinierte, war aber nicht so sehr das Chaos, das in diesem Raum herrschte, sondern vielmehr der Kontrast aus Chaos und penibler Ordnung. An den Wänden hingen, sauber aufgereiht, Dutzende Fotos von den Gesichtern junger Frauen. Allem Anschein nach waren sie in zwei Kategorien aufgeteilt. Auf der linken Seite hingen etwa zwanzig Gesichter, auf der rechten nur sechs. Dazwischen befand sich eine große Landkarte von Großbritannien, bedeckt mit Fähnchen, die sich in einer krummen Linie von London in Richtung Nordwesten zogen. Auf der gegenüberliegenden Wand entdeckte Frieda eine riesige Zeitachse, in gestochener Handschrift mit Daten und Namen versehen. Fearby beobachtete sie. Er zog die Schubfächer eines Aktenschranks heraus. Zum Vorschein kamen reihenweise mit Namen versehene
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