Schwarzer Mittwoch
Erde sprossen Feldblumen und Unkraut. Nach ihren Sitzungen mit Joe stand Frieda jedes Mal eine Weile am Fenster, den Rücken ihrem ordentlich aufgeräumten Sprechzimmer zugewandt – dem roten Sessel, auf dem sie immer saß, und der schlichten Kohlezeichnung einer Landschaft, die dezent die Wand zierte. Während sie auf die Ödnis hinausstarrte, dachte sie nach oder ließ zumindest zu, dass ihr ein paar Gedanken durch den Kopf gingen. Ihr altes Leben erschien ihr so weit weg, ein Gespenst seiner selbst. Wenn sie versuchte, sich die Frau vorzustellen, die Stunde für Stunde, Tag für Tag in diesem Sessel gesessen hatte, rückte ihr Bild in weite Ferne. Sie hatte diesen Raum immer für den Mittelpunkt ihres Lebens gehalten, doch nun schien sich alles verschoben zu haben: Hal Bradshaw mit seinen vier studentischen Hilfskräften, Karlsson mit seinen Mord- und Vermisstenfällen und nicht zuletzt Dean Reeve, der sie von irgendwo dort draußen beobachtete – all diese Leute hatten sie aus ihrer vertrauten Lebensmitte gerissen.
Sie dachte gerade an die vier Psychologiestudenten und ihre Scharade, wobei sie versuchte, die eigentliche Geschichte von der Tatsache zu trennen, dass man sie, Frieda, auf eine demütigende Weise hereingelegt und das dann auch noch veröffentlicht hatte. Sie wusste nicht, warum sie das Ganze nicht einfach ad acta legen konnte. Es ging ihr nicht aus dem Kopf, und sie fragte sich die ganze Zeit, was das zu bedeuten hatte. Irgendetwas daran ließ sie nicht los – wie ein Stück Schnur, das ständig in ihren Händen zuckte. Wenn sie nachts wach lag und die Dunkelheit wie ein drückendes Gewicht auf ihr lastete, dachte sie oft an die vier und an das, was sie zu ihr gesagt hatten: über die schnippenden Klingen der Schere, das Gefühl von Zärtlichkeit und gefährlicher Macht.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie holte es heraus.
»Frieda.«
»Karlsson.« Obwohl sie sich inzwischen duzten, nannte sie ihn weiter beim Nachnamen.
»Du hast ja dein Telefon eingeschaltet.«
»Jetzt weiß ich, warum du Detective geworden bist.«
Er musste einen Moment lachen, ehe er fortfuhr.
»Du hattest recht.«
»Dann ist es ja gut. Verrätst du mir auch noch, in Bezug worauf?«
»Ruth Lennox. Sie war tatsächlich zu perfekt, um wahr zu sein.«
»Ich glaube nicht, dass ich das so formuliert habe. Ich habe höchstens angedeutet, dass sie etwas von einer Schauspielerin besaß, die ihr Leben wie ein Bühnenstück inszenierte.«
»Genau. Wir haben herausgefunden, dass sie einen Geliebten hatte. Zehn Jahre lang. Die beiden trafen sich jeden Mittwoch. Was sagst du dazu?«
»Das ist eine lange Zeit.«
»Es gibt noch mehr zu berichten, aber nicht jetzt. Ich muss erst einmal zu ihrem Ehemann.«
»Wusste er Bescheid?«
»Er muss es gewusst haben.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Ich dachte, es würde dich interessieren. Habe ich mich da getäuscht?«
»Ich weiß nicht so recht.«
»Sollen wir uns später noch auf einen Drink treffen? Dann kann ich dir den Rest erzählen. Vielleicht hilft es mir, wenn ich das Ganze mit jemand Außenstehendem bespreche.«
Irgendein bittender Unterton, den sie in dieser Form noch nie bei ihm gehört hatte, hinderte sie daran, Nein zu sagen.
»Vielleicht«, antwortete sie vorsichtig.
»Dann schau ich gegen sieben bei dir vorbei.«
»Karlsson …«
»Wenn es später wird, rufe ich an.«
Die Familie Lennox zog zurück in ihr Haus. Der Teppich war entfernt und die Wand gereinigt worden, auch wenn man die Spuren der Blutspritzer immer noch sah. Die Glasscherben und Gegenstände, die auf dem Boden gelegen hatten, waren ebenfalls verschwunden.
Als Karlsson und Yvette eintrafen, öffnete ihnen eine Frau, die eine Schürze trug. Es roch nach frisch Gebackenem.
»Wir kennen uns bereits«, erklärte die Frau, als sie Karlssons irritierten Blick bemerkte, »aber Sie haben vergessen, wer ich bin, stimmt’s?«
»Nein, das habe ich nicht vergessen.« Vor seinem geistigen Auge sah er ein Baby in einem Tuch, den kleinen, müde wirkenden Jungen an ihrer Seite und das Mädchen, das voller Eifer einen Spielzeugkinderwagen schob, als versuchte es, seine Mutter nachzuahmen.
»Ich bin Louise Weller, Ruths Schwester. Wir kennen uns von dem Tag, an dem das Ganze passiert ist.« Sie winkte die beiden herein.
»Sind Sie für länger hier?«, erkundigte sich Karlsson.
»Ich kümmere mich um die Familie, so gut ich kann«, antwortete sie, »irgendjemand muss es ja tun. Von
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