Schwarzer Mond: Roman
aber auf Emmys tatsächlichen Zustand war er doch nicht gefasst gewesen. Noch vor zwei Wochen war sie -wie Brendan ihm erzählt hatte verkrüppelt und dem Tode nahe gewesen. Nun aber leuchteten ihre dunklen Augen, und ihre Blässe hatte roten Wangen Platz gemacht. Ihre Finger-und Handgelenke waren nicht geschwollen, und sie schien überhaupt keine Schmerzen mehr zu haben. Sie sah nicht aus wie ein krankes Kind, das sich tapfer bemühte, wieder gesund zu werden - sie schien bereits geheilt zu sein.
Am meisten überraschte es Stefan, dass sie nicht im Bett lag, sondern sich mit Hilfe von Krücken zwischen ihren begeisterten und bewundernden Verwandten bewegte. Ihr Rollstuhl war verschwunden.
»Nun«, sagte Vater Wycazik nach kurzem Aufenthalt, »ich muss jetzt gehen, Emmy. Ich wollte dir eigentlich nur frohe Weihnachten von einem Freund wünschen. Von Brendan Cronin.«
»Pudge!« rief sie glücklich. »Er ist großartig, nicht wahr? Es war schrecklich, als er aufhörte, hier zu arbeiten. Wir vermissen ihn sehr.«
»Ich bin diesem Pudge nie begegnet«, warf Emmys Mutter ein, »aber nach allem, was die Kinder von ihm erzählten, muss er eine gute Medizin für sie gewesen sein.«
»Er hat nur eine Woche hier gearbeitet«, erzählte Emmy. »Aber er kommt immer wieder -wussten Sie das? Er besucht uns alle paar Tage. Ich habe gehofft, dass er heute kommt, damit ich ihm einen dicken Weihnachtskuss geben kann.«
»Er wollte vorbeikommen, aber er verbringt Weihnachten bei seiner Familie.«
»Oh, wie schön! Dafür ist Weihnachten doch da - nicht wahr, Vater? Damit man mit seiner Familie zusammen ist, Spaß hat und einander liebt.«
»Ja, Emmy.« Stefan Wycazik dachte bei sich, dass kein Theologe oder Philosoph es besser hätte ausdrücken können. »Dafür ist Weihnachten da.«
Wenn Stefan mit Emmy allein gewesen wäre, hätte er sie nach dem Nachmittag des 11. Dezember gefragt. Das war der Tag, an dem Brendan ihr Haar gebürstet hatte, während sie im Rollstuhl aus dem Fenster blickte. Stefan hätte gern etwas über die Ringe auf Brendans Händen erfahren, die an jenem Tag zum erstenmal aufgetaucht waren. Dem Mädchen waren sie ja sogar eher aufgefallen als Brendan selbst. Stefan hätte Emmy auch gern gefragt, ob sie etwas Ungewöhnliches gespürt hatte, als Brendan sie berührte. Aber es waren zu viele Erwachsene anwesend, und sie würden ihm bestimmt peinliche Fragen stellen.
Stefan war aber noch nicht soweit, die Gründe für seine Neugier enthüllen zu können.
Las Vegas, Nevada
Nach dem schwierigen Anfang verlief der Weihnachtsmorgen bei den Monatellas doch noch sehr harmonisch. Mary und Pete hörten auf, Jorja mit ihren gutgemeinten, aber lästigen Ratschlägen und Kritiken zu quälen. Sie entspannten sich und beteiligten sich an Marcies Spielen, und Jorja begriff wieder einmal, warum sie ihre Eltern so sehr liebte. Um zehn vor eins stand das Festessen auf dem Tisch, und es war köstlich. Inzwischen hatte Marcie ihr unnatürliches Interesse an den Arztinstrumenten etwas abreagieren können, und sie beeilte sich nicht mit dem Essen. Es war ein gemütliches Festmahl mit viel Geplauder und Gelächter, während im Hintergrund die Lichter am Weihnachtsbaum strahlten. Es waren glückliche Stunden, bis das Idyll beim Dessert plötzlich wie eine Seifenblase zerplatzte und die Situation immer mehr auf eine Katastrophe zusteuerte.
»Wo bringt ein so kleines Ding wie du nur solche Mengen Essen unter?« neckte Pete seine Enkelin. »Du hast mehr vertilgt als wir alle zusammen!«
»Ach, Opa!«
»Es stimmt aber! Du hast richtig geschaufelt. Noch ein Bissen von dieser Kürbistorte, und du wirst platzen!«
Marcie hob ihre volle Gabel, hielt sie hoch, damit alle das Tortenstück sehen konnten, und führte es theatralisch zum Mund.
»Nein, nicht!« rief Pete und hielt sich die Hände vors Gesicht, so als wollte er sich vor Marcies demnächst durch die Luft fliegenden Körperteilen schützen.
Marcie stopfte sich den Bissen in den Mund, kaute und schluckte. »Siehst du! Ich bin nicht geplatzt.«
»Beim nächsten Bissen wird es dir aber ganz bestimmt passieren«, prophezeite Pete. »Du wirst platzen ... oder wir werden dich jedenfalls schleunigst in die Klinik schaffen müssen.«
Marcie runzelte plötzlich die Stirn. »Keine Klinik!«
»O doch«, zog Pete sie weiter auf. »Du wirst ganz dick und aufgequollen sein, fast am Platzen, und wir werden dich in die Klinik bringen müssen, damit man dich dort irgendwie
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