Schwarzer Mond: Roman
die anderen Leute im Restaurant verwirrt an und unterhielt sich mit ihnen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was es ist.«
Sie taumelte plötzlich zur Seite und wäre fast gestürzt. »Gewalt!«
Sie suchte Halt an einem Tisch oder einer Stuhllehne. »Alles bebt. Warum bebt alles?«
Sie machte einen erschrockenen Satz. »Mein Bierglas ist umgefallen. Ist es ein Erdbeben? Was geht nur vor? Was ist das für ein Geräusch?«
Sie taumelte wieder. Jetzt hatte sie Angst. »Die Tür!«
Sie rannte durch das Wohnzimmer, aber sie glaubte, auf den Ausgang des Restaurants zuzurennen, das sie in Wirklichkeit vor langer Zeit verlassen hatte. »Die Tür!« rief sie wieder, blieb dann aber keuchend, schwankend und zitternd stehen.
Als Pablo sie einholte, fiel sie auf die Knie und ließ ihren Kopf hängen.
»Was geht hier vor sich, Ginger?«
»Nichts.« Sie hatte sich von einem Augenblick zum anderen völlig verändert.
»Was ist das für ein Lärm?«
»Welcher Lärm denn?« fragte sie mit jener Roboterstimme.
»Ginger, verdammt noch mal, was passiert im Tranquility Grille?«
Ihr Gesicht spiegelte Entsetzen wider, aber sie sagte nur: »Ich esse zu Abend.«
»Das ist eine falsche Erinnerung.«
»Ich esse zu Abend.«
Er versuchte, an den entscheidenden Moment anzuknüpfen, als etwas Erschreckendes geschehen war, aber zuletzt musste er akzeptieren, dass die Asrael-Blockierung einsetzte, als Ginger zur Restauranttür rannte, und dass diese Gedächtnisblockade erst am folgenden Dienstagmorgen endete, als sie in östliche Richtung nach Salt Lake City abfuhr. Vielleicht würde es ihm allmählich gelingen, diese Zeitspanne behutsam immer mehr zu verkleinern, aber für diesen Tag hatten sie genug erreicht.
Sie wussten jetzt, dass Ginger am Abend des 6. Juli des vorletzten Jahres etwas gesehen hatte, das sie nicht hätte sehen dürfen. Danach war sie mit großer Sicherheit in einem Zimmer des Motels gefangengehalten worden, und jemand hatte sie mit den ausgeklügelten modernsten Techniken einer Gehirnwäsche unterzogen, um ihr die Erinnerung an jenes Ereignis zu rauben und dadurch zu verhindern, dass sie anderen Menschen etwas davon erzählte. Man hatte sie drei Tage lang bearbeitet - am Samstag, Sonntag und Montag -und sie mit korrigierten Erinnerungen am Dienstag freigelassen.
Aber wer um alles in der Welt waren diese allmächtigen Unbekannten? Und was hatte Ginger gesehen?
2. Portland, Oregon
Am Sonntag, dem 5. Januar, flog Dominick Corvaisis nach Portland und mietete ein Hotelzimmer in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung. Es regnete heftig, und die Luft war kalt.
Abgesehen vom Abendessen im Hotelrestaurant, verbrachte er den Nachmittag und den Abend an einem Tisch am Fenster seines Zimmers, studierte die Straßenkarten und starrte zwischendurch gedankenverloren auf die regengepeitschte Stadt hinaus. Immer wieder ließ er im Geiste die Strecke Revue passieren, die er im vorletzten Sommer gefahren war -und ab morgen wieder fahren würde.
Wie er Parker Faine an Weihnachten erzählt hatte, war er überzeugt davon, dass er damals unterwegs zufällig in eine gefährliche Situation geraten war, und dass man ihm - so absurd das auch klingen mochte -die Erinnerung an diesen Vorfall geraubt hatte. Die Post von seinem unbekannten Informanten ließ einfach keine andere Schussfolgerung zu.
Vor zwei Tagen hatte er einen dritten Brief ohne Absender mit New Yorker Poststempel erhalten. Als Dom es nun im Hotelzimmer satt bekam, sich mit den Landkarten zu beschäftigen und den Regen zu betrachten, nahm er jenen Briefumschlag wieder einmal zur Hand und zog den Inhalt heraus, der diesmal nicht aus einer getippten Botschaft, sondern aus zwei Polaroid-Fotos bestand.
Die erste Aufnahme übte auf ihn die kleinere Wirkung aus, obwohl er auch auf sie sehr betroffen reagierte -erstaunlich betroffen in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um das Foto eines - zumindest, soweit er sich erinnern konnte - wildfremden Menschen handelte. Ein junger, pausbäckiger Priester mit wirren kastanienbraunen Haaren, Sommersprossen und grünen Augen blickte in die Kamera. Er saß auf einem Stuhl vor einem kleinen Schreibtisch, einen Koffer neben sich, in übertrieben aufrechter Haltung, mit gestrafften Schultern, die Hände auf dem Schoß gefaltet, die Knie eng aneinandergedrückt. Was Dom an diesem Foto schockierte, war der Gesichtsausdruck des Priesters - er sah fast so starr und leblos wie eine Leiche aus. Obwohl die steife Haltung des Mannes bewies,
Weitere Kostenlose Bücher