Schwarzer Mond: Roman
Ratlosigkeit hervor. Schon im Wartezimmer schrie das Mädchen, kreischte, jammerte und weinte. »Keine Ärzte! Sie werden mir weh tun!«
Bei jenen seltenen Gelegenheiten, wenn Marcie ungezogen war (was wirklich sehr selten vorkam), genügte normalerweise ein kräftiger Klaps aufs Gesäß, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Jetzt aber versagte diese Maßnahme völlig. Marcie schrie und kreischte nur noch lauter, weinte nur noch stärker.
Eine verständnisvolle Krankenschwester musste mit anpacken, um das kreischende Kind überhaupt vom Warte-ins Sprechzimmer zu befördern. Jorja war nicht nur entsetzt über Marcies unmögliches Benehmen, sondern auch außer sich vor Angst. Obwohl Dr. Besancourt ein freundlicher Mann war, der gut mit Patienten umzugehen verstand, wurde das Mädchen bei seinem Anblick nur noch hysterischer. Es wich zurück, sobald er es nur berühren wollte, es brüllte, trat und schlug nach ihm, so dass Jorja und die Krankenschwester es schließlich festhalten mussten. Als der Arzt dann schließlich mit einem Ophthalmoskop Marcies Augen untersuchte, erreichte ihr Schrecken seinen Höhepunkt, und sie machte wie am Vortag in die Hose.
Nach diesem unkontrollierten Urinieren veränderte sich ihr Benehmen schlagartig. Wie an Weihnachten, so wurde sie auch jetzt völlig apathisch. Sie war erschreckend bleich und zitterte am ganzen Leibe, und ihre unheimliche In-sich-Gekehrtheit ließ Jorja wieder an Autismus denken.
Auch Louis Besancourt konnte sie nicht mit einer eindeutigen Diagnose trösten. Er sprach von neurologischen und psychologischen Störungen, von möglichen Gehirnerkrankungen. Er empfahl, Marcie einige Tage gründlich im Sunrise Hospital untersuchen zu lassen.
Die peinliche Szene in Besancourts Praxis war nur ein verhältnismäßig harmloses Vorspiel im Vergleich zu jenen Anfällen gewesen, die Marcie im Krankenhaus bekam. Sie geriet beim bloßen Anblick von Ärzten und Schwestern in wilde Panik und regelrechte Hysterie, bis sie erschöpft in jene fast schon katatonische Trance fiel, von der sie sich erst nach Stunden erholte.
Jorja nahm sich im Casino eine Woche Urlaub und quartierte sich für vier Tage in der Klinik ein, wo sie auf einem Klappbett in Marcies Zimmer schlief. Sie kam nicht viel zur Ruhe. Trotz Beruhigungstabletten schlug Marcie in ihren Träumen wild um sich, wimmerte und schrie: »Der Mond, der Mond ...«
Nach der vierten Nacht -von Sonntag, dem 29., auf Montag, den 30. Dezember - war Jorja so erschöpft und beunruhigt, dass sie fast schon selbst ärztliche Behandlung benötigte.
Wie durch ein Wunder waren Marcies irrationale Ängste jedoch am Montagmorgen plötzlich verschwunden. Es gefiel ihr immer noch nicht, in der Klinik zu sein, und sie bat inbrünstig darum, endlich nach Hause zu dürfen. Aber sie hatte offensichtlich nicht mehr das Gefühl, dass die Wände sich immer enger um sie schlossen und sie zu zermalmen drohten. Sie fühlte sich in Anwesenheit von Ärzten und Krankenschwestern immer noch unbehaglich, aber sie wich nicht mehr entsetzt vor ihnen zurück und schlug nicht mehr nach ihnen, wenn sie sie berühren wollten. Sie war immer noch bleich, nervös und wachsam. Aber ihr Appetit war zum erstenmal seit Tagen normal, und sie aß alles auf, was auf ihrem Frühstückstablett war.
Während Marcie später im Bett ihr Mittagessen verzehrte, unterhielt sich Dr. Besancourt im Korridor mit Jorja. Der Arzt mit der Knollennase und den gütigen Augen teilte ihr mit: »Alle Befunde sind negativ, Jorja. Kein Gehirntumor, keine Gehirnschädigung, keine neurologischen Funktionsstörungen.«
»Gott sei Dank!« stammelte Jorja und war vor Erleichterung den Tränen nahe.
»Ich werde Marcie an einen anderen Arzt überweisen«, fuhr Besancourt fort. »Ted Coverly. Er ist ein ausgezeichneter Kinderpsychologe. Ich bin sicher, dass er die Ursache ihrer Ängste aufspüren wird. Das Eigenartige ist ... vielleicht haben wir Marcie schon geheilt, ohne uns dessen bewusst geworden zu sein.«
»Sie geheilt? Wie meinen Sie das?«
»Im nachhinein fällt mir auf, dass ihr Benehmen alle Symptome einer Phobie aufwies. Irrationale Ängste, Anfälle von Panik ... Ich vermute, dass sie dabei war, eine starke, krankhafte Furcht vor allem, was irgendwie mit Medizin zusammenhängt, zu entwickeln. Und es gibt eine Behandlungsmöglichkeit namens >Überflutung<, bei welcher der Patient absichtlich stundenlang mit dem Gegenstand seiner Phobie konfrontiert wird, bis diese ihre Macht über ihn
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