Schwarzer Mond: Roman
Friedhof. Als der würdevolle Bestattungsredner ein letztes, an keine spezielle Religion gebundenes Gebet sprach und der Sarg ins offene Grab hinabgelassen wurde, brach ein besonders heller Lichtstrahl durch die Wolken, so als wollte er die Blumen in Brand setzen.
Außer Jorja und Paul Rykoff -Alans Vater, der aus Florida gekommen war -hatten nur fünf Personen Alan die letzte Ehre erwiesen. Sogar Jorjas Eltern waren nicht gekommen. Durch seinen Egoismus hatte Alan dafür gesorgt, dass ihm kaum jemand nachtrauerte. Paul Rykoff, der seinem Sohn in vieler Hinsicht ähnlich war, machte Jorja für alles verantwortlich. Seit seiner Ankunft am Vo rtag hatte er kaum die elementarsten Formen der Höflichkeit gewahrt. Nachdem sein einziges Kind nun in der Erde ruhte, wandte er sich mit steinernem Gesicht von Jorja ab, und sie wusste, dass sie ihn nur wiedersehen würde, falls sein Eigensinn und seine Ve rbitterung einmal von dem Wunsch übertroffen würden, seine Enkelin zu sehen.
Jorja brachte ihr Auto nach etwa anderthalb Kilometern am Straßenrand zum Stehen und weinte. Sie weinte nicht eigentlich um Alan; sie weinte, weil sein Tod einen letzten Schlussstrich unter all die Hoffnungen setzte, mit denen ihre Beziehung einst begonnen hatte; sie weinte ihren ausgebrannten Sehnsüchten nach Liebe, Freundschaft, Familie, gemeinsamen Lebenszielen nach. Sie hatte Alan nicht den Tod gewünscht. Aber nachdem er nun tot war, wusste sie, dass ihr der Neubeginn, den sie seit einiger Zeit plante, jetzt leichterfallen würde, und diese Erkenntnis weckte in ihr keinerlei Schuldgefühle; es war einfach eine traurige Tatsache.
Am Sonntagabend hatte Jorja Marcie erzählt, dass ihr Vater gestorben sei, allerdings nicht, dass er Selbstmord begangen hatte. Ursprünglich hatte sie es ihrer Tochter erst an diesem Nachmittag, in Gegenwart des Psychologen, Dr. Coverly, erzählen wollen. Aber der Arzttermin hatte abgesagt werden müssen, weil Jorja und Marcie statt dessen nach Elko fliegen würden, um dort Dominick Corvaisis, Ginger Weiss und die anderen zu treffen.
Marcie hatte die Nachricht von Alans Tod erstaunlich gut verkraftet. Sie war mit ihren sieben Jahren zwar alt genug, um einigermaßen zu verstehen, was der Tod bedeutete, aber seine grausame Endgültigkeit konnte sie doch noch nicht voll erfassen. Außerdem hatte Alan dem Mädchen - im nachhinein betrachtet durch sein selbstsüchtiges Verhalten einen Gefallen erwiesen; in gewisser Weise war er für Marcie schon vor über einem Jahr gestorben, als er sie und Jorja verlassen hatte, und sie hatte die Trauer um den Verlust des Vaters schon bewältigt.
Und noch etwas anderes hatte Marcie über ihren Kummer hinweggeholfen: ihre Obsession mit der Sammlung von Mondbildern. Bereits eine Stunde, nachdem sie vom Tod ihres Vaters erfahren hatte, hatte sie mit trockenen Augen am Esszimmertisch gesessen, mit einem Wachsstift in der Hand, die kleine rosa Zunge in äußerster Konzentration zwischen den Zähnen vorgestreckt. Sie hatte am Freitagabend damit begonnen, die Monde rot anzumalen, und sie hatte ihr Werk am Wochenende fortgesetzt. Heute morgen zur Frühstückszeit waren schon sämtliche Fotos des Mondes feuerrot gewesen und ebenso die meisten der Hunderte selbst gezeichneter Monde.
Marcies Besessenheit hätte Jorja auch dann beunruhigt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass andere ebenfalls unter dieser krankhaften Faszination litten und zwei Menschen sich deshalb umgebracht hatten. Noch drehte sich nicht jede wache Minute des Mädchens um den Mond. Aber es erforderte nur wenig Fantasie, um zu begreifen, dass Marcie - wenn diese Obsession weiter fortschritt - unaufhaltsam in den Wahnsinn treiben würde.
Jorjas Ängste in bezug auf Marcie wurden so stark, dass sie ihre Tränen rasch trocknete und zum Haus ihrer Eltern weiterfuhr, wo Marcie auf sie wartete.
Das Mädchen saß mit dem allgegenwärtigen Mondalbum und einem roten Wachsstift am Küchentisch. Es blickte flüchtig auf, als Jorja hereinkam, lächelte schwach und malte sofort weiter.
Pete, Jorjas Vater, saß ebenfalls am Tisch und betrachtete Marcie mit gerunzelter Stirn. Von Zeit zu Zeit versuchte er, sie für irgendeine weniger bizarre Aktivität als das endlose Ausmalen von Monden zu interessieren, aber all seine Versuche, sie von diesem Album abzulenken, schlugen fehl.
Im Schlafzimmer ihrer Eltern zog Jorja ihr Kleid aus; sie wollte auf dem Flug nach Elko bequeme Jeans und einen Sweater tragen. Mary Monatella war ihr gefolgt
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