Schwarzer Mond: Roman
Vortag. Sie antwortete Jack nicht, reagierte nur hin und wieder mit einem ausdruckslosen oder verwirrten Blick. Trotzdem ließ er sich nicht entmutigen, und Jorja begriff, dass er nicht so schnell die Geduld mit Marcie verlieren würde, nachdem er acht Jahre lang mit einer Frau geredet hatte, die in ihrem Koma zu überhaupt keiner Reaktion mehr fähig gewesen war. In den Minuten, die Jorja vor der Küchenschwelle verbrachte, schwankte sie zwischen zwei Gefühlen: Jack zu beobachten, erfüllte sie mit warmer Freude; aber zugleich zerbrach ihr fast das Herz vor Schmerz darüber, ihre Tochter in einem Zustand zu sehen, der fatale Ähnlichkeit mit dem eines autistischen Kindes hatte.
»Guten Morgen!« Jack hatte von dem Mondalbum aufgeschaut und Jorja entdeckt. »Gut geschlafen? Wie lange stehst du schon dort?«
»Nicht lange«, sagte sie und kam in die Küche.
»Marcie, sag deiner Mutter >guten Morgen<», forderte Jack das Mädchen auf.
Aber Marcie blickte nicht einmal von dem Mond auf, den sie rot ausmalte.
Jorja begegnete Jacks Augen und sah Sorge und Mitgefühl darin. Sie sagte: »Na ja, von Morgen kann eigentlich keine Rede mehr sein. Es ist ja schon fast Mittag.«
Sie ging zu Marcie, legte ihr die Hand unter das Kinn und hob ihren Kopf etwas an. Das Kind starrte seiner Mutter flüchtig in die Augen, dann kehrte sich sein Blick sofort wieder nach innen.
Es war ein erschreckend leerer Blick. Als Jorja ihre Hand wegnahm, wandte sich Marcie sofort wieder ihrem Album zu und malte mit ihrem letzten roten Wachsstift eifrig die Konturen des Mondes aus.
Jack schob seinen Stuhl zurück, stand auf und ging zum Kühlschrank. »Hungrig, Jorja? Ich bin jedenfalls am Verhungern. Marcie hat schon gefrühstückt, aber ich habe auf dich gewartet.« Er öffnete die Kühlschranktür. »Eier, Speck und Toast? Oder soll ich uns ein Omelette mit Käse, Kräutern, Zwiebeln und ein bisschen grünem Pfeffer machen?«
»Kochen kannst du auch?«
»Na ja, einen Preis im Kochen werde ich wohl nie gewinnen«, antwortete er. »Aber genießbar ist es normalerweise, und oft kann man sogar erkennen, was es sein soll, wenn ich es auf den Teller lege.« Er öffnete die Tiefkühltruhe. »Ich sehe gefrorene Waffeln. Ich könnte ein paar davon zum Omelette toasten.«
»Mach einfach, was da ist.« Der Anblick ihrer krankhaft nach innen gekehrten Tochter hatte Jorja den Appetit verschlagen.
Jack trug eine Packung Milch, Eier, Käse, eine grüne Pfefferschote und eine kleine Zwiebel zur Arbeitsplatte neben der Spüle.
Als er damit begann, Eier in eine Schüssel aufzuschlagen, trat Jorja neben ihn. Obwohl sie nicht glaubte, dass Marcie sie hören würde, selbst wenn sie brüllte, fragte sie leise: »Hat sie wirklich etwas gefrühstückt?«
»Aber ja. Cornflakes, ein Stück Toast mit Marmelade und Erdnussbutter. Ich musste ihr nur ein bisschen helfen, das war alles. Daraufhin ging's großartig.« Er flüsterte ebenfalls.
Jorja versuchte, weder an Zebediah Lomack noch an Alan zu denken. Aber wenn zwei erwachsene Männer nicht in der Lage gewesen waren, mit den Obsessionen fertigzuwerden, die sie durch die Ereignisse des 6. Juli und die anschließende Gehirnwäsche entwickelt hatten -welche Chance hatte dann Marcie, diese psychische Krankheit zu überwinden und wieder ein gesundes, fröhliches Menschenkind zu werden?
»Na, na«, sagte Jack leise, »nicht weinen, Jorja! Weinen nützt nichts.« Er nahm sie in die Arme. »Sie wird wieder gesund werden, das verspreche ich dir. Hör mal, heute morgen haben die anderen erzählt, dass sie eine herrlich ruhige Nacht hatten - zur Abwechslung einmal ganz ohne Alpträume, und Dom ist nicht im Schlaf gewandelt, und Ernie hat sich nicht mehr so vor der Dunkelheit gefürchtet. Weißt du, warum? Weil die Gedächtnisblockierungen allmählich zusammenbrechen und der immense Druck nachlässt, einfach dadurch, dass wir hier sind, dass wir wie eine Familie zusammenrücken! Sicher, Marcie geht es heute morgen etwas schlechter als gestern, aber das bedeutet noch lange nicht, dass es mit ihr weiter abwärts gehen wird. Sie wird sich erholen, das weiß ich.«
Jorja hatte die Umarmung nicht erwartet, aber sie genoss sie von ganzem Herzen. Sie lehnte sich an ihn und ließ sich von ihm festhalten, und anstatt sich schwach und albern zu fühlen, spürte sie, wie neue Kraft sie durchflutete. Sie war ziemlich groß für eine Frau, und er war für einen Mann nicht groß, kaum größer als sie, aber trotzdem fühlte sie sich
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