Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
Digitalsammlung alter Schellackaufnahmen. Im Begleitheftnennen sie als Trompeter allerdings ›Jiver‹ Hutchinson, dabei ist es ganz klar Dave Wilkins.«
»Von wann ist die Aufnahme?«
»Die Original-Achtundsiebziger kam 1939 raus. Decca-Studios, West Hampstead.« Dad sah mich durchdringend an. »Gehört das zu einem Fall? Als du das letzte Mal hier warst, hast du ’ne Menge seltsames Zeug geredet.«
Auf die Schiene ließ ich mich gar nicht ein. »Was soll das mit dem Keyboard?«
»Ich belebe meine Karriere neu«, sagte er. »Ich hab vor, der nächste Oscar Peterson zu werden.«
»Ach, tatsächlich?« Das war selbst für meinen Dad ziemlich überkandidelt.
»Tatsächlich«, sagte er und rutschte auf der Bettkante bis zum Keyboard. Er spielte die Melodie von
Body and Soul
an, dann fing er an zu improvisieren, begab sich weiter und weiter auf eine musikalische Bahn, der ich noch nie hatte folgen oder etwas abgewinnen können. Meine Reaktion schien ihn zu enttäuschen – er hofft immer noch, dass ich es eines Tages zu schätzen lerne. Andererseits: Mein Dad hat einen iPod, also ist nichts unmöglich.
»Was ist aus Ken Johnson geworden?«
»Bei den deutschen Luftangriffen umgekommen. Genau wie Al Bowlly und Lorna Savage. Ted Heath erzählte mir mal, sie hätten manchmal das Gefühl gehabt, Göring hätte es speziell auf Jazzer abgesehen. Er sagte, während des Kriegs hätte er sich auf Tournee durch Nordafrika sicherer gefühlt als bei Auftritten in London.«
Ich bezweifelte, dass ich es mit dem rachedurstigen Geist von Reichsmarschall Hermann Göring zu tun hatte, aber es schadete sicher nicht, es zu überprüfen.
Jetzt verbannte Mum uns aus dem Schlafzimmer, weil sie sich umziehen wollte. Ich machte uns noch einen Tee, und wir setzten uns ins Wohnzimmer.
»Mal sehen«, sagte Dad, »vielleicht schaue ich mich demnächst nach Gigs um.«
»Als Pianist?«
»Es geht um die Grundlinie. Das Instrument ist nur Mittel zum Zweck.«
Der Jazzer lebt, um zu spielen.
In einem ärmellosen gelben Sommerkleid und ohne Kopftuch kam meine Mum wieder aus dem Schlafzimmer. Ihr Haar war in diese dicken Zöpfe geflochten, die meinen Dad immer zum Grinsen brachten. Als ich klein war, ließ sie ihre Haare pünktlich alle sechs Wochen glätten. Überhaupt saß jedes Wochenende irgendjemand im Wohnzimmer – eine Tante, eine Cousine oder ein Mädchen aus der Nachbarschaft – und ätzte sich die Haare mit viel Chemie glatt. Hätte ich nicht bei der Schuldisco in der zehnten Klasse was mit Maggie Porter angefangen – ihr Dad trug Dreadlocks und ihre Mum war Autoversicherungsvertreterin –, die ihr Haar kraus ließ, ich hätte möglicherweise bis ins Erwachsenenalter geglaubt, die Haare eines schwarzen Mädchens dufteten von Natur aus nach Kaliumlauge. Ich persönlich bin da wie mein Dad, ich mag sie am liebsten
au naturel
oder geflochten – aber was die Haare einer schwarzen Frau angeht, ist die erste Regel: Man spricht nicht darüber. Die zweite Regel ist: Man fasst sie
niemals
ohne schriftliche Erlaubnis an. Das gilt auch nach dem Sex, nach der Heirat und selbst nach dem Tod. Die Gegenseite hält sich natürlich nicht an diese Höflichkeitsregeln.
»Du musst dir mal wieder die Haare schneiden lassen«, sagte meine Mum prompt. Mit Haare schneiden meinte sie so kurz abrasieren, dass meine Kopfhaut sonnenbrandgefährdet war. Ich versprach ihr, es in Angriff zu nehmen, und sie stöckelte in die Küche, um Abendessen zu machen.
»Ich war ein Kriegsbaby«, sagte Dad. »Deine Oma wurde evakuiert, als sie mit mir schwanger war, deshalb steht in meiner Geburtsurkunde Cardiff. Zum Glück hat sie uns noch vor Kriegsende nach Stepney zurückevakuiert.« Sonst wären wir jetzt womöglich Waliser – in den Augen meines Dad ein noch schlimmeres Schicksal, als Schotte zu sein.
Er sagte, in den späten Vierzigern sei der Krieg in den Köpfen der Leute immer noch allgegenwärtig gewesen. Da waren die zerbombten Häuser, die Lebensmittelkarten, die schnöseligen Radiostimmen des BBC Home Service. »Nur natürlich kein Bombenhagel mehr. Damals redete noch jeder davon, wie Bowlly in der Jermyn Street in die Luft gejagt worden war, oder wie Anno ’44 Glen Millers Flugzeug vom Radar verschwand. Wusstest du, dass er ein waschechter Major bei der amerikanischen Air Force war? Er gilt bis heute offiziell als vermisst.«
In den Fünfzigern jung und talentiert zu sein, hieß hingegen, ständigen Wandel zu erleben. »
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