Schwarzer Purpur
hatte. Was mochte damals vorgefallen sein?
In der Hoffnung, in den übrigen Briefen eine Aufklärung zu finden, blätterte ich sie durch, um sie zu sortieren. Erstaunt stellte ich fest, dass sie allesamt nicht an meine Mutter, sondern an Verena Naumann-Corvaio adressiert und der Reihe nach nummeriert waren, als habe mein Vater erwartet, dass sie eines Tages komplett in meine Hände gelangen würden.
Ich öffnete den ersten und las:
Meine über alles geliebte Tochter,
ich hoffe immer noch, dich eines Tages in die Arme schließen zu können, aber es wird nicht in nächster Zukunft sein, so viel ist mir inzwischen klar. Solange deine Mutter die Annahme meiner Briefe verweigerte, wusste ich wenigstens, wo ich euch in meiner Fantasie besuchen konnte.
Seit neuestem aber kommen die Briefe zurück mit dem Stempel »Empfänger unbekannt verzogen«. Ich habe meine früheren Schwiegereltern fragen wollen, deine Großeltern, aber sie haben nur wortlos aufgelegt. Sie können meine Stimme nicht ertragen – ich mache ihnen keinen Vorwurf. Halten sie mich doch für schuldig am Unglück ihrer Tochter, und, Gott vergebe mir, ich kann es nicht abstreiten.
Vielleicht werde ich eines Tages den Mut aufbringen, dir alles zu erzählen. Wenn nicht: Bitte verachte und hasse mich nicht! Ich bezahle einen schrecklichen Preis für einen Moment der Dummheit.
Monsignore riet mir, dir zu schreiben und die Briefe aufzubewahren – für den Fall, dass du irgendwann in der Zukunft etwas von mir wissen willst. Auch wenn das niemals der Fall sein sollte, will ich es tun – und wenn es nur wegen der kurzen Zeit ist, in der ich mir einbilden kann, mit dir zu sprechen, indem ich dir schreibe.
Für heute muss ich Schluss machen. Es ist Zeit, zur Messe zu gehen. Ich gehe jetzt viel zur Kirche. Der gute Monsignore Rovegro ermutigt mich immer, auf Gott zu vertrauen und die Hoffnung nicht aufzugeben.
Wenn du wüsstest, wie oft ich die Bilder von dir hervorhole, dein kleines, lachendes Gesicht anschaue und mir einbilde, ich hielte dich wieder im Arm!
In Liebe
dein Vater
Mein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Ich versuchte mich zu erinnern, was Tante Hilde mir erzählt hatte. Etwas von einem Unfall, in den mein Vater verwickelt gewesen war. Einem Unfall mit tödlichen Folgen – und er war nicht allein gewesen. Wie hatte Tante Hilde sie genannt? Ach ja: eine stadtbekannte lockere Dame.
War ein billiges Verhältnis wirklich der Auslöser für all das Unglück?
In der Hoffnung, mehr darüber zu finden, vertiefte ich mich in die übrigen Briefe. Zu meiner Enttäuschung enthielten sie nur wenige Informationen über Giuseppes tristes Leben. Er schrieb mehr über Verwandte: Jüngere Familienmitglieder wanderten nach Amerika oder Australien aus, ältere starben. Er schien eine Art Rechtsanwaltskanzlei geführt zu haben, denn manchmal erwähnte er Klienten, denen er ausnahmsweise eine Rechnung hatte stellen können. Das Geld reichte gerade für ihn und seine ältliche Verwandte, die ihm den Haushalt führte. War das die Dame gewesen, die dem Detektiv das Briefbündel mitgegeben hatte?
Ich hatte Mühe, den lebenslustigen jungen Mann von den Fotos in diesen Alltagsschilderungen wieder zu erkennen. Er hatte das Leben eines Büßers gelebt. Der überwältigende Kummer, der aus den Briefen sprach, erschütterte mich. Direkt erleichtert darüber, es bald überstanden zu haben, griff ich nach dem letzten Umschlag.
Bereits die feste Schrift unterschied das Schreiben von den anderen.
Geliebte Tochter,
dies wird vermutlich mein letzter Brief an dich. Dottore Santino ist sich seiner Sache sicher: Ich habe nur noch sehr kurze Zeit zu leben. Irgendwie bin ich erleichtert. Das Einzige, was mich traurig macht, ist die Gewissheit, dich nicht mehr wiederzusehen. Nun werde ich niemals erfahren, ob du mir ähnlich siehst, ob du inzwischen glücklich verheiratet bist, ob ich Enkelkinder habe.
Es ist an der Zeit, dass ich dir und Margarethe alles gestehe. Sie hat sich immer geweigert, mich anzuhören, deshalb hoffe ich, dass sie mir im Angesicht meines Todes endlich Glauben schenkt: Ich habe nie eine andere Frau als sie geliebt!
An jenem Tag, an dem alles zerbrach, hatten wir uns entsetzlich gestritten. Ich hatte sie angeschrien, weil sie sich weigerte, mich nach Italien zu begleiten, und mir auch verweigerte, dich mitnehmen zu dürfen. Ich wollte dich so gerne meiner Mutter zeigen, die damals im Sterben lag.
Ich ging zu Sieglinde, um mich sinnlos zu betrinken.
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