Schwarzer Regen
tollten übermütig durch die Zweige der Buchen, Eichen und Fichten. Der Friedhof schien auch für die Tiere ein Ort der Ruhe und des Friedens zu sein.
Welch seltsamer Kontrast zu dem Grauen, das viele der Menschen, die hier begraben lagen, kurz vor ihrem Tod hatten erleben müssen. Vor allem diejenigen, die in den vergangenen sechs Wochen in mehreren konzentrischen Kreisen um die noch leere Stelle bestattet worden waren, an der das Mahnmal für die Opfer von Karlsruhe errichtet werden sollte.
Lennard versuchte, sich das Bild von Ben vor Augen zu rufen, wie er dort auf dem Feldbett gelegen hatte, die Haare fast vollständig ausgefallen, das Gesicht von der Verstrahlung gezeichnet. Er wollte noch einmal die heiße Wut spüren, die er damals empfunden hatte; die Flamme in seinem Bauch sollte erneut lodern und ihm Mut und Entschlossenheit für die bevorstehende Aufgabe geben. Doch stattdessen sah er den fröhlichen kleinen Jungen vor sich, der so gerne Fußball gespielt und so glockenhell gelacht hatte, wenn Lennard sich absichtlich ungeschickt anstellte und als Torwart einen Ball durchließ. Tränen liefen über seine Wangen, und statt Zorn erfüllte ihn eine verlorene und doch immer noch machtvolle Liebe. Er steckte eine Hand in die Tasche, fühlte das kalte Metall der Pistole, und für einen Moment durchzuckte ihn die Frage, wie es wäre, |343| hier und jetzt sein trauriges Leben zu beenden und Ben dorthin zu folgen, wo auch immer er nun war.
Er verjagte den Gedanken. Das Letzte, was er sich erlauben würde, war, jetzt aufzugeben – gerade, wo er die ersten Anhaltspunkte hatte, die ihn zu Bens Mördern führen konnten.
Er wischte sich die Tränen ab und zwang sich zur Selbstdisziplin. Er holte tief Luft, verabschiedete sich von Ben und ging zurück zum Wagen.
Die nächste Station war das kleine Hotel gegenüber von Pawlows Wohnung. Er würde die Aufzeichnungen der vergangenen Nacht überprüfen – vielleicht war in seiner Abwesenheit noch irgendetwas geschehen, das ihm weitere Hinweise geben konnte. Dann würde er zu Always Online fahren und unter einem Vorwand um einen Termin bei Heiner Benz bitten. Man würde ihn sicher nicht vorlassen, aber er konnte auf diese Weise wenigstens in Erfahrung bringen, wo sich Benz gerade aufhielt. Dann würde er zu dessen Villa fahren und die Unterlagen aus dem Tresor holen.
Er war sich darüber im Klaren, dass das alles möglicherweise nicht einfach werden würde. Aber es gab wenig, was er im Voraus planen konnte. Falls jemand im Haus war, würde er sich auf sein Improvisationstalent verlassen müssen. Die Verschwörer wussten, dass Eva einen Helfer hatte, aber sie würden vielleicht nicht damit rechnen, dass er sich so schnell in die Höhle des Löwen wagte. Dieser Überraschungseffekt, die Tatsache, dass sie ihn nicht einschätzen konnten, war sein einziger Trumpf. Er musste ihn rasch ausspielen.
Auf dem Weg zum Hotel hielt er an einem Markt für Billigtextilien und kaufte für Eva Jeans, ein Sweatshirt, Unterwäsche und einen schlabberigen Freizeithut. Die Sachen würden kaum ihrem Geschmack entsprechen, aber |344| das durfte jetzt keine Rolle spielen. In ihrem eleganten Kleid zog sie die Blicke viel zu sehr auf sich.
Er verstaute die Kleidungsstücke in seiner Reisetasche und parkte kurz darauf in der Nähe des Hotels. Die junge Asiatin an der Rezeption händigte ihm ohne Nachfragen den Zimmerschlüssel aus und wandte sich dann wieder ihrem halb ausgefüllten Sudoku zu.
Wie angewurzelt blieb Lennard in der Tür zu seinem Zimmer stehen.
Es war leer.
Von seinem Laptop, dem daran angeschlossenen Empfangsgerät und seinem Koffer fehlte jede Spur.
Er sah auf den Schlüssel in seiner Hand, um sich zu vergewissern, dass er nicht versehentlich das falsche Zimmer geöffnet hatte. Nein, dies war eindeutig Nummer 207.
Lennard Pauly geriet selten aus der Ruhe, doch jetzt überfiel ihn so etwas wie Panik. Sie wussten, wer er war! Sie kannten seinen Namen, seine Adresse.
Er holte sein Handy heraus, um Treidel anzurufen. Dann überlegte er es sich anders und wählte stattdessen die Nummer des Hotels in Lüneburg. Wenn die Verschwörer seinen Namen hatten, brauchten sie dort bloß anzurufen, um zu erfahren, wo Eva war! Er ließ sich mit seinem Zimmer verbinden, doch wenn sie noch dort war, ging sie nicht ans Telefon. Auch ihr Handy war immer noch ausgeschaltet. Er bereute jetzt beinahe, ihr dazu geraten zu haben.
»Eva, hier ist Lennard«, sprach er auf die Mailbox. »Wenn du
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