Schwarzer Regen
mitunter auch Gliedmaßen des Toten. Das
erinnerte an Pinocchio aus der Kindergeschichte, dem man alle Stifte aus den
Holzgelenken gezogen hat. Wenn selbst Pinocchio, ein armseliges Spielzeug aus
Holz und Metallstiften, Schmerz gefühlt haben soll, als er sich das Schienbein
kräftig stieß, wie stand es dann mit diesen Toten, die doch einst lebendige Menschen
waren.
„Diese Leichen wachsen einem über den Kopf“,
murmelte einer der Soldaten.
„Wären wir doch bloß in einem Land geboren
worden und nicht in einem verrückten Staat“, meinte sein Kamerad nachdenklich.
Dieser Wortwechsel war der einzige menschliche Laut,
den ich hörte. Der Leichnam auf der improvisierten Tragbahre lag
zusammengekrümmt, ein Pinocchio, dem man alle Gelenkstifte entfernt hatte...
Völlig unbewußt, fing ich an, die „Predigt über
die Vergänglichkeit“ zu murmeln. Hiroshima war nicht mehr... Doch wer konnte
vorhersehen, daß sein Ende so grauenvoll sein würde.
Zwölftes Kapitel
Ein stechender Schmerz im Magen ließ mich auf
eine Steintreppe niedersinken, ungeachtet der dicken Aschenschicht, die darauf
lag. Die Asche war trocken und pulverartig wie Buchweizenmehl. Ich stippte mit
dem Finger hinein, malte Kringel und Schriftzeichen. Alles mögliche schrieb ich und stellte mir dabei die Schultafel meiner Kindheit vor. Ich fing
sogar an, den Satz des Pythagoras aufzuzeichnen, hörte aber mittendrin auf.
Nach einer Weile ließ der Schmerz nach. Ich
drehte mich um, um zu sehen, wo ich eigentlich war, und fand mich am
Haupteingang des Rathauses; überall lagen verkohlte Holzstücke. Ein trostloser
Anblick; die Fassade, einst geschmackvoll kremfarben, war nun zu einem
Graubraun verbrannt. Die Fensterrahmen, von den Scheiben gar nicht zu sprechen,
hatte es herausgeschleudert. Im Korridor, der vom Haupteingang in das Gebäude
führte, lag Stahlschrott auf dem Boden, der an zertrümmerte Helme erinnerte.
Das Gebäude war natürlich eine verwüstete, ausgebrannte Ruine. Vom
Hintereingang hörte ich Geräusche, als würden leere Kisten oder dergleichen
über den Boden gezogen. Ich spitzte die Ohren, um das Geräusch genauer zu
deuten, und bildete mir plötzlich ein, es käme aus der Erde. Mir wurde
unheimlich, und ich schulterte wieder mein Bündel. Da hörte ich zu meiner
Verwunderung jemand meinen Namen rufen. „Herr Shizuma! Wo gehen Sie denn hin?“
Es war Herr Tashiro, ein älterer Technologe aus
der Konservenfabrik in Ujina.
„Sie sind es, Herr Tashiro, das freut mich aber.
Was mag das bloß für ein Lärm sein?“
„Das sind Arbeiter von der Stadt, die räumen
verkohlte Balken weg. Sie haben sich ja das Gesicht verbrannt. Wie geht es denn
Ihrer Familie?“
„Sie sind in Sicherheit, besten Dank. Was
unternimmt Ihre Firma denn nun wegen der Kohlen? Ich will zur
Kohlenerfassungsbehörde, habe aber keine Ahnung, wo sie sein könnte.“
„Die hat’s genauso erwischt wie alle anderen.
Ich weiß nicht mal, wo die Angestellten hin sind. Deshalb bin ich zum Rathaus
gekommen.“
Die Konservenfabrik in Ujina unterstand dem
Proviantdepot und lieferte wie wir einen Teil der Produktion an das
Heeresbekleidungsamt, hatte aber trotzdem Schwierigkeiten, Kohle zu erhalten.
Herrn Tashiro zufolge arbeiteten schon wieder über zwanzig Angestellte im
Rathaus unter der Leitung des stellvertretenden Bürgermeisters Shibata. Aber
sie hatten es glatt abgelehnt, irgendwelche Anträge auf Kohlenzuteilung
entgegenzunehmen. Kohlenzuteilungen erfolgten nur über die Kohlenbehörde, und
wenn sich die Stadtverwaltung da einmischte, würde sie sich nur einen Verweis
durch das Militär einhandeln, und dann würde alles noch viel schwieriger
werden. „Jetzt bin ich hier, um mich beim Bürgermeister zu beschweren“, fügte
Tashiro hinzu.
Was auch geschah, ich würde dem Geschäftsführer
darüber berichten müssen. Ich bat daher Tashiro, mir zu zeigen, wo die
Kohlenbehörde ihren Sitz gehabt hatte. Als Haupttechnologe der Konservenfabrik
kannte sich der Alte in Kohlenangelegenheiten aus, und er stand sich auch gut
mit dem Leiter der Behörde.
„Mich wundert ja“, meinte Tashiro beim Gehen,
„daß ein so wichtiges Amt wie die Erfassungsbehörde nicht mal ein Schild
aufgestellt hat, mit einem Hinweis auf seinen jetzigen Standort. Das hat doch
seinen Grund, meinen Sie nicht?“
An der Stelle, auf der das Gebäude der
Erfassungsbehörde gestanden hatte, waren allerlei Nachrichten auf ein Stück
Betonwand geschrieben, aber nicht ein Wort von der
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