Schwarzer Schmetterling
Dämmerlicht standen Rechen, Schaufeln, Blumenkübel, eine Gießkanne, eine Schubkarre, eine Leiter … Servaz kehrte zum Haus zurück, die Alu-Leiter unter dem Arm. Er stellte sie gegen die Fassade und kletterte bis in Fensterhöhe hinauf.
»Was machst du?«
Ohne zu antworten, zog er an seinem Ärmel und schlug mit der Faust in eine der Fensterscheiben. Er brauchte insgesamt drei Schläge.
Die Faust noch immer in seinem Ärmel versteckt, entfernte er die Glasscherben, drehte den Griff und stieß das Fenster auf. Er rechnete mit dem Schrillen einer Alarmanlage, aber nichts geschah.
»Du weißt doch, dass ein Anwalt wegen dem, was du gerade getan hast, das gesamte Verfahren torpedieren könnte?«, rief Ziegler am Fuß der Leiter.
»Im Moment geht es vor allem darum, Chaperon lebend wiederzufinden. Nicht darum, ihn vor Gericht zu bringen. Wir sagen, wir hätten dieses Fenster so vorgefunden und die Gelegenheit ergriffen …«
» KEINE BEWEGUNG !«
Sie drehten sich vollkommen synchron um. Weiter unten auf dem Fußweg, zwischen den beiden Tannen, richtete ein Schatten ein Gewehr auf sie.
»Hände hoch! Und rühren Sie sich nicht!«
Statt zu gehorchen, griff er mit der Hand in seine Jackentasche und schwenkte seinen Dienstausweis, ehe er die Leiter hinabstieg.
»Lass gut sein, mein Lieber: Polizei.«
»Seit wann verschafft sich die Polizei durch Einbruch Zugang zu einem Haus?«, fragte der Mann, ließ aber das Gewehr sinken.
»Seit wir es eilig haben«, sagte Servaz.
»Suchen Sie Chaperon? Er ist nicht da. Wir haben ihn seit zwei Tagen nicht gesehen.«
Servaz hatte sein Gegenüber wiedererkannt: der »selbsternannte Hauswart«, der dem Richter Saint-Cyr so teuer war. Einen wie ihn gab es in jeder oder fast jeder Straße. Ein Typ, der sich ins Leben anderer Leute einmischte, nur weil sie ins Nachbarhaus eingezogen waren. Deshalb glaubte er das Recht zu haben, sie zu überwachen, sie über seine Hecke auszuspionieren, vor allem wenn sie
verdächtig
wirkten. Und in den Augen des selbsternannten Hausmeisters waren homosexuelle Pärchen ebenso verdächtig wie alleinerziehende Mütter, menschenscheue, verschlossene Junggesellen und, ganz allgemein, jeder, der ihn schräg ansah und nicht seine fixen Ideen teilte. So jemand war hilfreich, wenn es darum ging, das persönliche Umfeld eines Verbrechensopfers zu erkunden. Obwohl Servaz solche Typen aus voller Seele verachtete.
»Weißt du nicht, wohin er gefahren ist?«
»Nein.«
»Was ist er für ein Typ?«
»Chaperon? Ein guter Bürgermeister. Der Typ ist okay. Höflich, gute Laune, immer ein freundliches Wort. Immer für ein Schwätzchen aufgelegt. Direkt und offen. Nicht wie die andere rote Socke da unten.«
Er deutete auf eines der Häuser etwas weiter unten in der Straße. Servaz ahnte, dass die »andere rote Socke da unten« der Lieblingsfeind des selbsternannten Hauswarts war. Das eine ging nicht ohne das andere. Am liebsten hätte er gesagt, dass »die andere rote Socke da unten« bestimmt noch nie wegen sexueller Nötigung angezeigt worden war. Das war das Problem mit den selbsternannten Hauswarten: Sympathie und Antipathie führten dazu, dass sie oft die falsche Person aufs Korn nahmen. Und sie kamen meist im Zweierpack, als Mann und Frau – ein furchterregendes Duo.
»Was ist eigentlich los?«, sagte der Mann, ohne seine Neugier zu verbergen. »Nach dem, was passiert ist, verbarrikadieren sich alle. Außer mir. Dieser Spinner soll ruhig kommen, ich brenn ihm eins auf den Pelz.«
»Danke«, sagte Servaz, »geh nach Hause.«
Der Mann brummte etwas und kehrte um.
»Wenn Sie noch was wissen wollen – ich wohne in der Nummer fünf!«, rief er ihnen über die Schulter zu. »Mein Name ist Lançonneur!«
»Den hätte ich nicht gern zum Nachbarn«, sagte Ziegler, während sie ihm nachblickte.
»Du solltest dich etwas mehr für deine Nachbarn interessieren«, versetzte er. »Du hast bestimmt auch so einen. Die gibt es überall. Also los!«
Er stieg wieder die Leiter hoch und betrat das Haus.
Die Glasscherben knirschten unter seinen Sohlen. Ein Ledersofa, Teppiche auf dem Parkettboden, getäfelte Wände, ein Schreibtisch, alles in Halbdunkel gehüllt. Servaz fand den Schalter und machte den Kronleuchter an der Decke an. Ziegler tauchte oben an der Leiter auf und stieg durch das Fenster. Hinter ihr sah man zwischen den Bäumen die Lichter des Tals. Sie sah sich um. Ganz offenbar befanden sie sich im Büro von Chaperon und seiner Ex-Frau. Regale,
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