Schwarzer Schmetterling
unter der Treppe stand offen. Er stürzte hinein. Sie führte in ein weitläufiges Kellergeschoss mit Wänden aus Leichtbausteinen. Ein Raum, der als Heizungskeller und Waschküche diente. Völlige Dunkelheit.
Etwas weiter schien Licht …
Er ging darauf zu. Ein großer Raum, der von einer nackten Glühbirne erhellt wurde. Ihr dunstiger Lichthof ließ die Winkel im Schatten. Eine Werkbank, Bergsteigerausrüstung, an großen Korkplatten aufgehängt. Ziegler stand vor einem offenen Metallschrank. Ein Vorhängeschloss hing an der Tür.
»Was ist …?«
Er stockte. Machte ein paar Schritte. Im Innern des Schranks: ein schwarzes Regencape mit Kapuze und Stiefel.
»Und das ist noch nicht alles!«, sagte Ziegler.
Sie hielt ihm einen Schuhkarton hin. Servaz machte ihn auf und hielt ihn in das recht schwache Licht der Glühbirne. Er erkannte ihn sofort wieder: der Ring. Gekennzeichnet mit »C S«. Und ein vergilbtes, knittriges altes Foto. Darauf nebeneinander vier Männer, die das gleiche schwarze Cape mit Kapuze trugen, das auf einem Bügel in dem Metallschrank hing, das gleiche Cape, das an der Leiche Grimms gefunden wurde, das gleiche Cape, das in der Hütte am Fluss hing … Bei allen vier Männern lag das Gesicht teils im Schatten der Kapuzen, aber Servaz glaubte trotzdem, Grimms schlaffes Kinn und Chaperons breite Kiefer zu erkennen. Die Sonne schien auf die vier schwarzen Gestalten, so dass die Capes noch unheimlicher und unpassender wirkten. Man erkannte eine sommerliche Landschaft, ein bukolisches Idyll ringsherum – fast konnte man die Vögel singen hören. Aber das Böse war da, dachte Servaz. Fast mit den Händen zu greifen: In der sonnenüberfluteten Waldlandschaft war es in diesen vier Gestalten noch offenkundiger. Das Böse existiert, dachte er, und diese vier Männer waren eine seiner zahllosen Verkörperungen.
Er begann ein Schema, eine mögliche Struktur zu erahnen.
Seines Erachtens hatten diese Männer eine gemeinsame Passion: das Gebirge, die Natur, Wanderungen und Biwaks.
Aber auch noch eine andere, die verborgener und unheimlicher war.
Sie lebten in der völligen Abgeschiedenheit dieser Täler, wo sie, beflügelt von den überwältigenden Bergen, mit denen sie sozusagen auf Du und Du standen, ihre eigenen Herren waren und sich schließlich für unantastbar hielten. Ihm wurde klar, dass er sich dem Ursprung näherte – aus dem alles andere hervorgegangen war. Im Laufe der Jahre waren sie zu einer Art »Mini-Sekte« geworden, die sich in diesem Winkel der Pyrenäen, in den der Lärm der Welt nur über das Fernsehen oder Zeitungen vordrang, abgekapselt hatte – sie waren hier nicht nur geographisch, sondern auch psychologisch vom Rest der Bevölkerung und sogar ihren Ehegatten abgetrennt –, und das erklärte die Scheidungen und den glühenden Hass.
Bis die Wirklichkeit sie einholte.
Bis zum ersten Blut.
Da waren die Freunde verängstigt auseinandergestoben wie ein aufgescheuchter Schwarm Stare. Und sie hatten sich als die zu erkennen gegeben, die sie waren: erbärmliche, verängstigte Typen, Feiglinge, Flaschen. Jäh von ihrem Sockel gestoßen.
Jetzt waren die Berge nicht mehr die großartigen Zeugen ihrer ungestraften Verbrechen – sondern der Schauplatz ihrer Bestrafung. Wer war der Rächer? Wie sah er aus? Wo versteckte er sich?
Gilles Grimm.
Serge Perrault.
Gilbert Mourrenx – und Roland Chaperon.
Der »Klub« von Saint-Martin.
Eine Frage quälte ihn. Was genau hatten sie verbrochen? Denn Servaz zweifelte nicht mehr daran, dass Ziegler recht hatte: Die Erpressung dieses Mädchens war nur die Spitze eines Eisbergs, dessen untergetauchter Teil gewiss finstere Überraschungen barg. Gleichzeitig spürte er irgendwo ein Hindernis, ein Detail, das überhaupt nicht ins Schema passte. Zu einfach, zu offensichtlich, sagte er sich. Es gab eine Wand, die er nicht sah – und erst dahinter verbarg sich die Wahrheit.
Servaz trat an das Kellerfenster, das auf den dunklen Garten ging. Draußen war es stockfinster.
Der oder die Rächer waren da. In der Dunkelheit. Bereit zuzuschlagen. Wahrscheinlich waren sie Chaperon auf den Fersen wie sie. Wo versteckte er sich? Weit weg von hier – oder ganz nah?
Plötzlich überfiel ihn eine andere Frage.
Bestand der Klub der Mistkerle nur aus den vier Männern, die auf dem Foto zu sehen waren, oder hatte er noch weitere Mitglieder?
Als Espérandieu nach Hause kam, fand er die Babysitterin im Wohnzimmer. Völlig gefesselt von einer Episode
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