Schwarzer Schmetterling
mochte es nicht, dass man seine Worte in Zweifel zog. Oder seinen Verstand, sagte sich Servaz. Und der Mann schien sich seiner Sache sicher zu sein.
»Tut mir leid, aber wir haben im Karton nichts gefunden, was dieser Liste ähnlich sieht.«
Der Richter sah ihn an und schüttelte den Kopf.
»Was du hast, sind Fotokopien. Ich hab damals sehr sorgfältig gearbeitet. Nicht so, wie es heute üblich ist. Ich habe von sämtlichen Unterlagen in der Akte Fotokopien angefertigt. Ich bin mir sicher, dass die Liste dabei war.« Er stand auf. »Komm mit.«
Sie gingen durch einen Gang, der mit hübschen alten grauen Steinplatten ausgelegt war. Der Richter stieß eine niedrige Tür auf und drückte einen Schalter. Servaz erblickte ein wahres Chaos, einen staubbedeckten kleinen Schreibtisch inmitten eines unbeschreiblichen Durcheinanders. Bücherregale, Stühle und kleine runde Tische – alles voller juristischer Bücher, Stößen von Akten und Aktenmappen, aus denen lose zusammengehaltene Blätter herausragten. Selbst auf dem Boden und in den Ecken türmten sie sich. Saint-Cyr stöberte brummelnd in einem dreißig Zentimeter hohen Stapel auf einem Stuhl. Nach fünf Minuten richtete er sich endlich mit einem Stoß aneinandergehefteter Blätter auf, die er Servaz mit triumphierender Miene hinhielt.
»Na also.«
Servaz sah die Liste durch. Dutzende von Namen, zweispaltig und auf drei Seiten. Sein Blick glitt über die Spalten, ohne zunächst bei einem Namen hängenzubleiben. Dann stieß er auf einen bekannten Namen:
Alice Ferrand
… Er setzte seine Lektüre fort.
Ludovic Asselin
… Noch ein Selbstmörder. Den dritten fand er etwas weiter:
Florian Vanloot
… Er suchte die Namen der beiden anderen Jugendlichen, die sich in der Kolonie aufgehalten hatten, ehe sie sich umbrachten, als er über einen Namen stolperte, mit dem er nie gerechnet hätte …
Ein Name, der hier nicht hätte stehen dürfen.
Ein Name, bei dem ihm schwindelig wurde. Servaz zuckte zusammen, als hätte er einen Stromstoß abbekommen. Im ersten Augenblick glaubte er an eine Halluzination. Er schloss die Augen, machte sie wieder auf. Aber der Name war noch immer da, unter denen der anderen Kinder.
Irène Ziegler.
Verdammt, das gibt’s doch nicht!
24
E r blieb eine ganze Weile am Steuer des Cherokee sitzen und blickte gedankenverloren durch die Windschutzscheibe. Er sah weder die Flocken, die immer dichter fielen, noch die Schneedecke, die auf der Fahrbahn immer höher wurde. Eine Straßenlaterne warf einen Lichtkreis auf den Schnee; die Lichter der Mühle erloschen nacheinander – bis auf eines. Bestimmt die Lampe im Schlafzimmer. Wahrscheinlich las der alte Richter noch im Bett. Die Fensterläden waren nicht geschlossen. Das war auch nicht nötig: Ein Einbrecher hätte durch den Bach schwimmen und dann an der Mauer entlang zu den Fenstern klettern müssen. Dieses Gewässer wog als Schutz vor Einbrechern einen Hund oder eine Alarmanlage locker auf.
Irène Ziegler …
Ihr Name stand auf der Liste … Er fragte sich, was das bedeutete. Im Geiste sah er sich noch einmal nach seinem ersten Besuch bei Saint-Cyr mit dem Karton unterm Arm in der Gendarmeriekaserne aufkreuzen. Er sah, wie sie sich ungefragt über den Karton hermachte und nacheinander sämtliche Beweisstücke der Ermittlungsverfahren in den Suizidfällen herausnahm. Saint-Cyr war sich ganz sicher gewesen, dass sich die Liste der Kinder und Jugendlichen, die sich in der Ferienkolonie aufgehalten hatten, zu diesem Zeitpunkt in dem Karton befunden hatte. Und wenn der alte Mann verkalkt war? Vielleicht litt er an Gedächtnisschwäche und wollte es nicht zugeben. Vielleicht hatte er die Liste irgendwo anders abgelegt. Aber es gab noch eine andere, verstörendere Hypothese. Demnach hatte Servaz die Liste nie zu Gesicht bekommen,
weil Irène Ziegler sie entwendet hatte.
Er erinnerte sich daran, wie zäh sie sich an die Selbstmörder erinnert hatte, als er sie an jenem Abend bei der Gendarmerie zum ersten Mal erwähnt hatte. Plötzlich tauchte ein anderes Bild auf: Er war in der Seilbahnkabine gefangen, und er versuchte, sie am Handy zu erreichen. Sie hätte lange vor ihm da sein müssen, weil sie ja näher war, aber sie war nicht da, als er in die Kabine stieg. Am Telefon hatte sie ihm gesagt, sie hätte einen Unfall mit ihrem Motorrad gehabt, sei aber unterwegs. Wiedergesehen hatte er sie erst
danach,
als Perrault bereits tot war.
Er sah, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren, so
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