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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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fest umklammerte er das Steuer. Er rieb sich die Augen. Er war erschöpft, mit den Nerven am Ende, sein Körper war nur noch ein Knoten von Schmerzen, und der Zweifel breitete sich wie ein tödliches Gift in seinem Verstand aus. Andere Gedanken kamen ihm: Sie verstand etwas von Pferden, sie steuerte ihr Auto und den Hubschrauber sicher wie ein Mann, sie kannte die Region wie ihre Westentasche. Er erinnerte sich wieder, wie sie sich am Morgen so überaus beflissen angedient hatte, ins Rathaus zu fahren. Sie wusste bereits, was sie dort finden würde. Das war die einzige Spur, die zu ihr führen konnte. Hatte sie auch die Papiere bei Chaperon in der Hoffnung durchwühlt, ihn aufzuspüren?
War sie es auch, die in der Kolonie versucht hatte, ihn umzubringen? Hatte sie an der Schnur und an der Nylontüte gezogen?
Er konnte es einfach nicht glauben.
    Die Müdigkeit verlangsamte sein Denken. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was sollte er tun? Er hatte keinerlei Beweis dafür, dass die junge Gendarmin die Täterin war.
    Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett, zog sein Handy heraus und rief Espérandieu an.
    »Martin? Was ist los?«
    Servaz erzählte ihm zuerst von dem pensionierten Richter und seinen Akten und dann von der Entdeckung, die er gerade gemacht hatte. Am anderen Ende herrschte langes Schweigen.
    »Glaubst du, dass sie es ist?« Espérandieu klang skeptisch.
    »Sie war nicht bei mir, als ich Perrault mit dem Mörder in der Kabine gesehen habe. Der mit der Strumpfmaske, der sich hinter Perrault versteckt hat, als wir aneinander vorbeifuhren, damit ich seine Augen nicht sehe. Sie hätte vor mir da sein müssen – aber sie war nicht da. Sie kam erst viel später.« Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke. »Sie ist in der Ferienkolonie gewesen, und sie hat nichts gesagt. Sie kennt sich mit Pferden aus, sie kennt die Berge, sie ist sportlich, und sie weiß sicher, wie man mit einem Bergsteigerseil umgeht …«
    »Verflixt!«, entfuhr es Espérandieu, merklich erschüttert.
    Er sprach leise, und Servaz sagte sich, dass er wohl neben Charlène im Bett lag und diese vermutlich schlief.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte er.
    Schweigen. Trotz der Entfernung ahnte er, wie fassungslos Espérandieu war. Er war es nicht gewohnt, dass ihm sein Chef die Zügel überließ.
    »Du hörst dich komisch an.«
    »Ich bin völlig erschöpft. Ich fürchte, ich hab Fieber.«
    Über den Angriff in der Kolonie verlor er kein Wort; er hatte jetzt keine Lust, darüber zu reden.
    »Wo bist du gerade?«
    Servaz betrachtete ein weiteres Mal die menschenleere Straße.
    »Vor dem Haus von Saint-Cyr.«
    Unwillkürlich warf er einen Blick in den Rückspiegel. Auch nach dieser Seite hin war die Straße wie ausgestorben. An den letzten Häusern etwa hundert Meter entfernt waren die Fensterläden geschlossen. Nur die Flocken fielen still und immer dichter.
    »Fahr zurück ins Hotel«, sagte Espérandieu. »Unternimm erst mal gar nichts. Ich komme.«
    »Wann? Heute Abend?«
    »Ja, ich zieh mich an und fahr los. Und weißt du, wo Ziegler ist?«
    »In ihrer Wohnung, nehme ich an.«
    »Oder auf der Suche nach Chaperon. Du könntest sie vielleicht anrufen, nur um mal nachzuprüfen.«
    »Und was soll ich ihr sagen?«
    »Keine Ahnung. Dass es dir schlechtgeht, dass du krank bist. Du bist völlig erschöpft, du hast es selbst gesagt. Man hört es deiner Stimme an. Sag ihr, dass du morgen im Bett bleibst, dass du nicht mehr kannst. Mal sehen, wie sie reagiert.«
    Servaz lächelte. Nach dem, was passiert war, würde sie ihm bestimmt glauben.
     
    »Martin? Was ist los?«
    Er spitzte die Ohren. Das Geräusch eines Fernsehers auf Zimmerlautstärke. Ziegler war bei sich zu Hause. Oder bei jemand anders. Eine Wohnung? Ein Haus? Er konnte sich nicht vorstellen, wo sie lebte. Jedenfalls war sie nicht draußen, wie ein hungriger Wolf auf den Fersen des Bürgermeisters.
Oder auf seinen eigenen …
Er sah sie vor sich, mit ihrer Lederkombi, ihren hohen Stiefeln, ihrem schweren Motorrad; er sah sie am Steuerknüppel des Hubschraubers. Plötzlich war er sich sicher, dass sie es war.
    »Nichts«, sagte er. »Ich ruf dich an, um dir zu sagen, dass ich eine Pause mache. Ich muss schlafen.«
    »Geht’s dir nicht besser?«
    »Ich weiß nicht. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich bin ausgelaugt, und ich habe furchtbare Halsschmerzen.« Keine Lüge war besser als die, die ein Körnchen Wahrheit enthielt. »Glaubst du, dass du morgen allein zurechtkommst? Wir

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