Schwarzer Schmetterling
Patienten, die bei der plethysmographischen Untersuchung von der Norm abweichende Profile zeigen, eine Aversionstherapie durch?«
»Ja.«
»Die aversive Plethysmographie ist durchaus umstritten«, bemerkte sie.
»Hier hat sie sich bewährt«, antwortete Xavier mit fester Stimme.
Sie spürte, wie sie sich verkrampfte. Jedes Mal, wenn ihr jemand von der Aversionstherapie erzählte, dachte Diane an
Clockwork Orange.
Die Aversionstherapie bestand darin, die Darbietung abnormer sexueller Phantasien – Bilder von Vergewaltigungen, von nackten Kindern und so weiter – mit der Verabreichung unangenehmer beziehungsweise schmerzhafter Reize zu verknüpfen: zum Beispiel einem Elektroschock oder einem Schwall Ammoniak. Dadurch sollten die Lustgefühle, die dieses Phantasma für gewöhnlich im Patienten auslöst, überdeckt werden. Durch systematische Wiederholung der Prozedur sollte das Verhalten des Patienten dauerhaft verändert werden. Eine Art Pawlowsche Konditionierung, die man in einigen Ländern wie Kanada bei Sexualstraftätern erprobt hatte.
Xavier spielte an dem Druckknopf des Kulis, der aus seiner Brusttasche herausragte.
»Ich weiß, dass viele Ärzte in Frankreich den verhaltenstherapeutischen Ansatz skeptisch sehen. Dieses Verfahren wurde maßgeblich in den angelsächsischen Ländern und am Institut Pinel in Montréal entwickelt, wo ich gearbeitet habe. Es führt zu erstaunlichen Ergebnissen. Aber natürlich tun sich unsere französischen Kollegen schwer damit, eine derart verhaltensorientierte Methode, die zudem noch aus den Vereinigten Staaten stammt, anzuerkennen. Sie werfen ihr vor, so grundlegende Konzepte wie das Unbewusste, das Über-Ich, die Rolle der Triebe bei der Verdrängung einfach auszuklammern.«
Hinter seiner Brille verfolgte Xavier Diane mit einer Nachsicht, die sie wütend machte.
»Viele in diesem Land befürworten weiterhin ein Behandlungsverfahren, das die Errungenschaften der Psychoanalyse stärker berücksichtigt und das darauf abzielt, die tieferen Schichten der Persönlichkeiten umzuformen. Damit ignorieren sie jedoch den Umstand, dass das völlige Fehlen von Schuldgefühlen und Empathie bei perversen Psychopathen diese Versuche immer zum Scheitern verurteilt. Bei diesen Kranken hilft nur eine Methode – die ›Dressur‹.« Seine Stimme floss über dieses Wort wie ein eiskalter Wasserstrahl. »Es geht darum, dem Patienten durch eine ganze Reihe von Belohnungen und Sanktionen Verantwortung für seine Behandlung zu übertragen und konditionierte Verhaltensweisen hervorzurufen. Auf Ersuchen von Justizbehörden und Krankenhäusern erstellen wir auch Gefährlichkeitsgutachten«, fuhr er fort und blieb vor einer weiteren Tür aus Sekurit-Glas stehen.
»Belegen die meisten Studien nicht, dass diese Gutachten häufig danebenliegen?«, fragte Diane. »Laut einigen Studien sind die Hälfte aller psychiatrischen Gutachten über die Gefährlichkeit von Straftätern unzutreffend.«
»So heißt es«, räumte Xavier ein. »Aber eher in dem Sinne, dass die Gefährlichkeit überbewertet wird, als umgekehrt. Wenn Zweifel bestehen, befürworten wir in unserem Gutachten durchweg die Nichtentlassung aus der Haft beziehungsweise die Verlängerung des Klinikaufenthalts. Und dann«, fügte er mit einem zutiefst selbstgefälligen Lächeln hinzu, »entsprechen diese Begutachtungen auch einem tiefen Bedürfnis unserer Gesellschaft, Mademoiselle Berg. Die Gerichte verlangen von uns, für sie ein moralisches Dilemma zu lösen,
das sich in Wirklichkeit nicht klären lässt:
Wie kann man garantieren, dass die Maßnahmen gegen eine bestimmte gefährliche Person den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit entsprechen, ohne die Grundrechte dieser Person zu verletzen? Niemand hat eine Antwort auf diese Frage. Deswegen tun die Gerichte so, als würden sie die psychiatrischen Gutachten für zuverlässig halten. Auch wenn sich davon niemand täuschen lässt. Aber damit lässt sich die Maschinerie der Justiz, die ständig an der Überlastungsgrenze arbeitet, am Laufen halten, und zugleich wird die Illusion erweckt, die Richter handelten besonnen und ihre Urteile ergingen in gründlicher Kenntnis der Sachlage – was ganz nebenbei die größte aller Lügen ist, auf denen unsere demokratischen Gesellschaften basieren.«
Ein weiteres schwarzes Lesegerät, in die Wand eingelassen, ganz offensichtlich technisch viel ausgefeilter als die vorangehenden. Es verfügte über einen kleinen Bildschirm und sechzehn
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