Schwarzer Schmetterling
sich daran ergötzt hat. Ich wollte ihm den Lauf einer Waffe in den Mund schieben, wir beide ganz allein in diesem Wald. Er sollte bis zur allerletzten Sekunde glauben, dass seine letzte Stunde geschlagen hat. Und dann hätte ich ihn festgenommen.«
Ihre Stimme war nur noch ein dünner Eisfaden, und einen kurzen Moment lang fragte er sich, ob er sich nicht getäuscht hatte.
»Noch eine Frage«, sagte er. »Wann hast du begriffen, was vor sich geht?«
Sie blickte ihm tief in die Augen.
»Seit dem ersten Mord hatte ich so eine Ahnung. Als dann Perrault umgebracht wurde und Chaperon sich in Luft aufgelöst hat, war mir klar, dass jemand sie für ihre Verbrechen bezahlen ließ. Aber ich wusste nicht, wer.«
»Warum hast du die Liste weggenommen?«
»Das war wirklich dumm. Mein Name stand drauf, ich war in diesem Karton. Und du schienst dich sehr für alles zu interessieren, was sich in diesem verfluchten Karton befand. Ich wollte nicht danach gefragt werden, ich wollte keinen in meiner Vergangenheit herumwühlen lassen.«
»Eine letzte Frage: Warum hast du heute Blumen auf das Grab von Maud Lombard gebracht?«
Irène Ziegler schwieg einen Moment lang. Diesmal wirkte sie nicht mehr überrascht. Ihr war bereits aufgegangen, dass sie den ganzen Tag observiert worden war.
»Maud Lombard hat sich auch umgebracht.«
»Ich weiß.«
»Ich wusste schon immer, dass sie irgendwie auch ein Opfer dieser perversen Serientäter war. Mich hat dieser Ausweg durchaus auch verlockt. Eine Zeitlang gingen Maud und ich auf die gleichen Partys – bevor ich zum Studium nach Pau gegangen bin und sie diesen Dreckskerlen begegnet ist. Wir standen uns recht nahe, wir waren zwar nicht richtig befreundet, kannten uns aber gut – und ich mochte sie. Sie war selbständig, ziemlich verschlossen, und sie wollte aus ihrem Milieu ausbrechen. Deshalb lege ich jedes Jahr zu ihrem Todestag Blumen auf ihr Grab. Und jetzt wollte ich ihr, bevor ich den letzten dieser Mistkerle festnahm, ein kleines Zeichen zukommen lassen.«
»Dabei ist Maud Lombard nie in der Kolonie gewesen.«
»Na und? Maud war mehrmals von zu Hause ausgerissen. Sie trieb sich häufig mit etwas zwielichtigen Gestalten herum. Manchmal kam sie spät nach Hause. Sie muss ihnen zufällig irgendwo über den Weg gelaufen sein – so wie ich.«
Servaz überlegte in aller Eile. Seine Hypothese nahm Gestalt an.
Eine unerhörte Lösung …
Er hatte keine Fragen mehr. Wieder drehte sich ihm alles im Kopf. Er massierte sich die Schläfen und stand mit Mühe auf.
»Vielleicht ist da eine Hypothese, die wir noch nicht in Betracht gezogen haben«, sagte er.
D’Humières und Confiant erwarteten ihn im Gang. Servaz ging auf sie zu und kämpfte gegen das Gefühl an, dass um ihn die Wände und der Boden wackelten. Er massierte sich den Nacken und atmete tief ein – aber damit wurde er nicht den merkwürdigen Eindruck los, dass er Luft in den Schuhen hatte.
»Und?«, sagte die Staatsanwältin.
»Ich glaube nicht, dass sie es ist.«
»Was?«, entfuhr es Confiant. »Sie machen wohl Witze!«
»Ich habe jetzt keine Zeit, es Ihnen zu erklären: Wir müssen schnell handeln. So lange können Sie sie ja warm halten, wenn Sie wollen. Wo ist Chaperon?«
»Wir versuchen, ihn dazu zu bringen, die Vergewaltigung von Jugendlichen in der Ferienkolonie zu gestehen«, antwortete d’Humières in einem eiskalten Ton. »Aber er will nicht reden.«
»Sind die Taten nicht verjährt?«
»Nicht, wenn uns neue Erkenntnisse dazu veranlassen, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Martin, ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.«
Sie wechselten einen Blick.
»Ich hoffe es auch«, sagte er.
Ihm wurde immer schwindliger, sein Kopf brummte. Er bat am Empfang um eine Flasche Wasser, dann schluckte er eine von Xaviers Tabletten und ging zu seinem Jeep auf dem Parkplatz.
Wie sollte er ihnen von seiner Hypothese erzählen, ohne sich von dem jungen Richter den Kopf abreißen zu lassen und die Staatsanwältin in Verlegenheit zu bringen? Eine Frage beunruhigte ihn. Er wollte ganz sicher sein, ehe er seine Karten auf den Tisch legte. Und er wollte jemand anderen um seine Meinung fragen – jemanden, der ihm sagte, ob er auf dem richtigen Weg war, und der ihm vor allem sagte, wie weit er gehen konnte, ohne sich die Finger zu verbrennen. Er sah auf die Uhr. 21 : 12 Uhr.
Der Rechner …
Sie schaltete ihn an. Anders als der von Xavier war er mit einem Passwort gesperrt.
Sieh mal an …
Sie sah auf die Uhr.
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