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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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lange dieser arme Mann die Stiefel getragen hat, aber das muss äußerst schmerzhaft gewesen sein. Wenn auch weniger als das, was ihm bevorstand …«
    Espérandieu betrachtete ihn, seinen Notizblock in der Hand.
    »Warum hat er ihm Stiefel angezogen, die zu klein waren?«, fragte er.
    »Das müssen Sie beantworten. Vielleicht wollte er ihm einfach irgendwelche Stiefel anziehen und hatte keine anderen zur Hand.«
    »Aber wozu hat man ihn entkleidet, ihm die Schuhe ausgezogen und ihn anschließend in diese Stiefel hineingezwängt?«
    Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern und wandte ihm den Rücken zu, um den aufgeschnittenen Stiefel auf einen Arbeitstisch zu stellen. Er griff nach einer Lupe und einer Pinzette und entfernte sorgfältig die Grashalme und die winzigen Steinchen, die an dem Lehm und dem Gummi hafteten. Er ließ die Proben in eine Reihe kleiner Dosen fallen. Worauf Delmas die Stiefel ergriff und ganz offensichtlich zwischen einem schwarzen Müllsack und einer großen Kraftpapiertüte schwankte. Schließlich entschied er sich für Letztere. Espérandieu warf ihm einen fragenden Blick zu.
    »Weshalb ich mich für die Papiertüte statt für den Plastikbeutel entschieden habe? Weil die Erde an den Stiefeln vielleicht doch noch nicht ganz trocken ist. Feuchte Beweisstücke dürfen niemals in Plastikbeuteln aufbewahrt werden, da die Feuchtigkeit die Bildung von Schimmel befördert, und der würde die biologischen Beweise unwiderruflich vernichten.«
    Delmas ging um den Sektionstisch herum. Mit einer großen Lupe in der Hand näherte er sich dem abgetrennten Finger.
    »Abgeschnitten mit einem verrosteten Schneidewerkzeug: einer Blech- oder Gartenschere. Und zwar, als das Opfer noch lebte. Reichen Sie mir bitte die Pinzette da und einen Beutel«, sagte er zu Espérandieu.
    Espérandieu gehorchte. Delmas etikettierte den Beutel, dann warf er die letzten Abfälle in einen der Mülleimer, die vor der Wand standen, und zog mit einem peitschenden Knallen die Handschuhe aus.
    »Fertig. Kein Zweifel, Grimms Tod wurde wirklich durch das mechanische Ersticken, also das Erhängen, verursacht. Ich werde diese Proben, wie Capitaine Ziegler es wollte, ans Labor der Gendarmerie in Rosny-sous-Bois schicken.«
    »Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass zwei Dummköpfe zu einer solchen Inszenierung in der Lage sind?«
    Der Rechtsmediziner starrte Espérandieu an.
    »Ich stelle nicht gern Vermutungen an«, sagte er. »Ich bin für die Tatsachen zuständig. Hypothesen aufzustellen – das ist Ihre Arbeit. Was für Dummköpfe?«
    »Wachmänner. Typen, die bereits wegen Körperverletzung und Dealerei verurteilt sind. Phantasielose Idioten mit flachem EEG und zu viel Testosteron im Blut.«
    »Wenn sie tatsächlich so sind, wie Sie sie beschreiben, dann würde ich sagen, dass es genauso wahrscheinlich ist wie, dass alle Macho-Idioten in diesem Land eines Tages begreifen, dass Autos gefährlicher sind als Schusswaffen. Aber ich wiederhole, es liegt an Ihnen, die Schlussfolgerungen zu ziehen.«
     
    Es hatte viel geschneit, und es schien ihnen, als würden sie in einen riesigen Zuckerkuchenwald vordringen. Eine überreiche Vegetation versperrte den Talgrund; der Winter hatte sie wie mit einem Zauberspruch in ein von Rauhreif überzogenes Netz eng ineinander verwobener Spinnweben verwandelt. Servaz musste an Korallen aus Eis denken, an die Tiefen eines gefrorenen Meeres. Der Fluss strömte zwischen zwei Schneewülsten hindurch.
    Die in den Felsen getriebene, von einem massiven Geländer flankierte Straße schmiegte sich an den Berg an. Sie war so schmal, dass Servaz sich fragte, was sie machen würden, falls ihnen ein Lkw entgegenkäme.
    Beim Hinauskommen aus dem x-ten Tunnel bremste Ziegler ab und fuhr quer über die Fahrbahn, um an der Brüstung zu parken, die hier eine Art Balkon über der mit Rauhreif überzogenen Vegetation bildete.
    »Was ist los?«, fragte Confiant.
    Ohne zu antworten, machte sie die Seitentür auf und stieg aus. Sie näherte sich der Kante, und die drei anderen kamen ihr nach.
    »Sehen Sie da!«, sagte sie.
    Sie folgten mit den Augen der angezeigten Richtung und entdeckten in der Ferne die Gebäude.
    »Auweia! Wie unheimlich!«, entfuhr es Propp. »Wie ein mittelalterlicher Kerker.«
    Während der Teil des Tales, in dem sie sich befanden, in den blauen Schatten des Berges getaucht war, waren die Gebäude da oben von einem gelben Morgenlicht überflutet, das wie ein Gletscher von den Gipfeln strömte.

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