Schwarzer Sonntag
Willett und Umgebung haben keinen Respekt vor Pfarrer Lander, weil er weder eine Ernte einbringen noch sonst irgend etwas Praktisches bewerkstelligen könnte. Seine Predigten sind langweilig und wirr, da er sich erst Gedanken darüber macht, wenn der Chor den Opfergesang anstimmt. Pfarrer Lander verbringt einen großen Teil seiner Zeit damit, Briefe an ein Mädchen zu schreiben, für das er als Schüler geschwärmt hat. Er schickt die Briefe niemals ab, sondern legt sie in eine Blechschachtel in seinem Arbeitszimmer. Das Kombinationsschloß, mit der er die Schachtel verschließt, ist lächerlich primitiv. Michael liest die Briefe seit Jahren. Zum Spaß.
Die Pubertät hat Michael Lander sehr geholfen. Mit fünfzehn ist er groß und schlank. Unter erheblichen Mühen hat er gelernt, überzeugend den mittelmäßigen Schüler zu spielen. Entgegen allen Erwartungen hat er sich, so scheint es, zu einem freundlichen, umgänglichen jungen Mann entwickelt. Er kennt Papageienwitze und kann sie gut erzählen.
Ein sommersprossiges Mädchen, zwei Jahre älter als er, hat Michael zu der Entdeckung verhelfen, daß er wirklich ein Mann ist. Er ist darüber ungeheuer erleichtert, denn jahrelang hat man ihm nachgesagt, er sei schwul, und er hatte nie die Möglichkeit gehabt, sich das eine oder das andere zu beweisen.
Aber dieses »Aufblühen« gilt nur für einen Teil seiner Persönlichkeit. Ein anderer Teil von ihm hat die ganze Zeit kalt und lauernd abseits gestanden. Es ist der Teil von ihm, der die Dummheit der Klassenkameraden durchschaut hat, der Teil, der ihm ständig und immer wieder kleine Szenen aus den ersten Schuljahren vorspielt, die den neuen Michael Lander zusammenzucken lassen: in Augenblicken der inneren Anspannung sieht er den unbeliebten kleinen Schuljungen vor sich, der Michaels neues Image bedroht, und empfindet eine schreckliche innere Leere.
Dieser kleine Schüler steht an der Spitze einer Legion von Haßgefühlen. Er weiß immer die Antwort, und sein Credo lautet: Gott verdamme euch alle. Mit fünfzehn hat sich Lander nach außen hin sehr gut angepaßt. Ein erfahrener Beobachter würde vielleicht ein paar Eigenheiten an ihm bemerken, die auf jene Haßgefühle hindeuten, aber für sich genommen sind diese Eigenheiten nicht verdächtig. Er kann keine persönlichen Rivalitäten ertragen. Er hat nie das Auf und Ab kontrollierter Aggressionen an sich erfahren, das den meisten Menschen hilft, mit ihren Schwierigkeiten fertig zu werden. Selbst harmlose Gesellschaftsspiele sind ihm unerträglich, und es ist ihm unmöglich, mit anderen um Geld zu spielen. Objektiv hat er durchaus Verständnis für gemäßigte Formen der Aggression, aber er kann sie nicht nachempfinden. Für ihn gibt es keinen Mittelweg zwischen einer entspannten Atmosphäre ohne jede Rivalität und dem totalen Kampf, dem Kampf auf Leben und Tod, der mit der Schändung und Verbrennung des Unterlegenen endet. So hat Michael Lander kein Ventil. Und er hat sein Gift länger heruntergeschluckt, als die meisten anderen es gekonnt hätten.
Obgleich er sich einredet, daß er die Kirche haßt, betet er täglich mehrmals. Und er ist überzeugt davon, daß gewisse Gebetshaltungen seinen Bitten Nachdruck verleihen. Er glaubt, daß ein Gebet besonders wirksam ist, wenn er dabei die Knie mit der Stirn berührt. Um das auch in Gegenwart anderer tun zu können, denkt er sich irgendwelche Tricks aus, damit die anderen es nicht merken. So läßt er zum Beispiel irgend etwas unter seinen Stuhl fallen und bückt sich danach. Gebete, die er spricht, während er auf einer Schwelle steht oder das Schloß einer Tür berührt, hält er ebenfalls für wirksamer als andere. Er betet oft für Menschen, die in dem kurzen Aufflackern von Erinnerungen, von denen er mehrmals am Tag heimgesucht wird, vor seinem inneren Auge erscheinen. Ohne es zu wollen, und trotz aller Bemühungen, es nicht mehr zu tun, führt er oft quälende Zwiegespräche mit sich selbst.
»Da drüben arbeitet wieder die alte Mrs. Phelps im Garten hinter dem Schulhaus. Ich möchte wissen, wann sie sich endlich zur Ruhe setzt. Sie ist schon seit Ewigkeiten an der Schule.«
»Möchtest du, daß sie an Krebs verreckt?«
»Nein! Lieber Herr Jesus, vergib mir, ich möchte nicht, daß sie an Krebs stirbt. Lieber wollte ich an Krebs zugrunde gehen. (Er klopft dreimal auf Holz.) Lieber Vater im Himmel, lieber Gott, laß eher mich an Krebs zugrunde gehen.«
»Würdest du jetzt gern ein Gewehr nehmen und ihr eine Kugel
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