Schwarzer Sonntag
andere ihm zugefügt hatten, zornig auf sie werden. Dahlia mußte Lander kennenlernen, und sie lernte ihn sehr gut kennen, besser als irgend jemand anders ihn jemals kennenlernen sollte - sie wußte weit mehr über ihn als die Mitglieder jener Kommission, die seine letzte Tat untersuchte. Die auserwählten Männer der Untersuchungskommission waren auf Stapel von Dokumenten und Fotografien angewiesen, auf ihre steif dasitzenden Zeugen. Dahlia hatte es aus dem Mund des Ungeheuers.
Gewiß, sie wollte Lander kennenlernen, um ihn zu benutzen, aber wer hört schon jemals für nichts und wieder nichts zu? Sie hätte sicher viel für ihn tun können, wenn ihr Ziel nicht Mord gewesen wäre.
Seine absolute Offenheit und die Schlüsse, die sie aus seinen Erzählungen zog, boten ihr viele Ausblicke auf seine Vergangenheit. So konnte sie beobachten, wie ihre Waffe geschmiedet wurde ...
Bezirksschule Willett-Lorance, eine ländliche Schule zwischen Willett und Lorance in South Carolina, 2. Februar 1941:
»Michael, Michael Lander, komm nach vorn und lies deinen Aufsatz vor. Und ich möchte, daß du genau achtgibst, Ives. Und du auch, Atkins junior. Ihr zwei habt wieder einmal gealbert, während Rom brennt. Noch sechs Wochen, dann werden wir in dieser Klasse die Schafe von den Böcken scheiden.«
Michael muß noch zwei weitere Male aufgerufen werden. Er wirkt überraschend klein, als er schließlich zwischen den Bänken entlang nach vorn geht. Es gibt an der Schule keine Klasse für überdurchschnittlich begabte Kinder. Stattdessen hat man Michael eine Klasse überspringen lassen. Er ist acht Jahre alt und schon in der vierten Klasse.
Ives und Atkins junior, beide zwölf, haben die letzte Pause damit verbracht, den Kopf eines Jungen der zweiten Klasse in die Klosettschüssel zu tauchen. Jetzt geben sie genau acht. Auf Michael. Nicht auf das, was er vorliest.
Michael weiß, daß er für seine gute Arbeit büßen muß. Während er in seiner ausgebeulten kurzen Hose - die anderen tragen alle bereits lange Hosen - vor der Klasse steht und mit kaum hörbarer Stimme seinen Aufsatz vorliest, weiß er, daß er dafür büßen muß. Er hofft, daß es auf dem Schulhof passiert. Er will lieber verprügelt als mit dem Kopf in die Klosettschüssel getaucht werden.
Michaels Vater ist Pfarrer, und seine Mutter ist eine einflußreiche Persönlichkeit im Elternbeirat. Er ist kein hübscher, anziehender Junge. Er glaubt, daß irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung sei. Solange er sich erinnern kann, haben ihn schreckliche Gefühle gequält, die er nicht versteht. Er kann Zorn auf andere und Abscheu vor sich selbst noch nicht klar erkennen. Er hat ständig ein und dasselbe Bild von sich vor Augen: ein zimperlicher kleiner Junge in kurzen Hosen. Und er haßt diesen Jungen. Manchmal sieht er zu, wenn die anderen Achtjährigen im Buschwerk Cowboys spielen. Ein paarmal hat er versucht mitzuspielen, hat mit dem Zeigefinger gezielt und »Pängpäng!« gebrüllt. Aber er kommt sich albern dabei vor. Die anderen erkennen, daß er kein wirklicher Cowboy ist, daß er nicht an das Spiel glaubt.
Er schlendert zu seinen Klassenkameraden, den Elf- und Zwölfjährigen, hinüber. Sie wollen Football spielen und stellen Mannschaften auf. Er steht in der Gruppe und wartet. Es ist nicht schlimm, als letzter gewählt zu werden, solange man überhaupt gewählt wird. Schließlich steht er allein zwischen den beiden Mannschaften da. Er ist nicht gewählt worden. Er weiß, welche Mannschaft zuletzt gewählt hat, und geht zu der anderen Mannschaft hinüber. Er sieht sich selbst, sieht, wie er auf sie zugeht. Er sieht seine vorstehenden Knie unter der kurzen Hose, und er weiß, daß die dicht zusammenstehenden Jungen über ihn sprechen. Sie kehren ihm den Rücken zu. Er mag sie nicht bitten, daß sie ihn mitspielen lassen. Er geht davon, mit hochrotem Kopf. Und nirgendwo auf dem Spielplatz gibt es eine Ecke, wo er sich verstecken könnte.
Als Südstaatler ist Michael von einem besonderen »Ehrenkodex« geprägt. Ein Mann kämpft, wenn er zum Kampf aufgefordert wird. Ein Mann ist mutig, aufrichtig, rechtschaffen und stark. Er kann Football spielen, er jagt gern, und er duldet keine unanständigen Reden in Gegenwart von Damen, auch wenn er unter seinen Freunden schlüpfrige Bemerkungen über sie macht.
Solange man ein Kind ist, kann der »Ehrenkodex«, wenn man nicht über das nötige Rüstzeug verfügt, einen töten.
Michael hat gelernt, daß es besser ist, nicht gegen
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