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Schwarzer Tanz

Schwarzer Tanz

Titel: Schwarzer Tanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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so wie Rachaela jetzt Ruth betrachtete?

12
    Das Kind im Schnee.
    Er lag um sie herum wie auf einer Weihnachtskarte. Die Straße wandelte sich unter diesem Weiß flauschig und frisch auf den Gebäuden. Schon gab es eisige schwarze Trampelpfade. Auf einem von ihnen lief das Kind auf das Haus zu.
    Sie war dünn, eine kleine Siebenjährige, mit zwei dicken, rabenschwarzen Zöpfen, die von blauen Spangen zusammengehalten wurden. Sie trug eine rote Wollmütze mit Schal und Handschuhen, die Emma ihr gekauft hatte, und einen dunklen Regenmantel mit Gürtel. Ihre Füße steckten in kleinen, roten Stiefeln, passend zur Mütze, ebenfalls Emmas Idee. Sie trug einen Schulranzen. Ein ganz normales Kind, das von der Grundschule nach Hause kam.
    Rachaela beobachtete sie vom Küchenfenster aus. Es war reiner Zufall, dass sie gerade dort stand, als das Kind um die Ecke bog.
    Zuerst hatte Emma Ruth zweimal am Tag zur Schule gebracht und sie mittags und abends abgeholt. Aber die meisten Kinder legten den Weg allein zurück. Sie musste keine Hauptstraße überqueren, und es dauerte nicht länger als eine Viertelstunde.
    Ruth würde sicher nicht nach oben in die Wohnung kommen. Sie vermutete Rachaela sowieso nicht zu Hause und nahm ihr Mittag- und Abendessen immer mit Emma ein.
    Heute hatte Jonquil vorgeschlagen, Isis’ Bücherladen wegen des Schnees um drei Uhr zu schließen. Die Rohre waren eingefroren, und das winzige, elektrische Feuer nutzte nicht viel. Ein männlicher Klempner würde sich um die Rohre kümmern müssen. Das hatte Jonquil erzürnt und ihren stählernen Ohrring temperamentvoll schaukeln lassen.
    Rachaela sah, wie Ruth die Haustür öffnete und verschwand. Sie hatte einen Schlüssel.
    Rachaela machte sich Kaffee und verließ die Küche. Sie betrachtete ihre Wohnung, ihre Wohnung und Ruths Bereich. Normalerweise schlief Ruth hier oben, obwohl sie ab und zu höflich bei Rachaela anfragte, ob sie die Nacht auf Emmas Sofa verbringen durfte. Emma bestand darauf, dass Ruth immer vorher fragte. Rachaela und Ruth wussten, dass es keine Rolle spielte. Es war einer ihrer wenigen Augenblicke von einvernehmlichem Verständnis.
    Ruths Bereich war ebenfalls Emmas Idee gewesen.
    Das Kinderbett, in Mitternachtsblau überzogen, stand hinter einem Paravent aus Weide, über den ein karmesinroter Schal drapiert war. Glöckchen hingen an der Innenseite, mit denen Ruth gelegentlich klingelte, wenn sie da war. Dahinter stand eine Kommode, die als Tisch für Ruths Schätze, ihren Malkasten und ihren wackligen Bücherturm diente.
    Emma hatte ihr das Lesen noch vor der Schule beigebracht, und jetzt stapelten sich auf der Kommode goldene und rosafarbene Märchenbücher, Pooh der Bär, Alice im Wunderland und andere Titel, die Ruth möglicherweise noch nicht begriff oder noch nicht lesen sollte: Herr der Fliegen, Der Löwe, die Hexe und der Schrank, Kleopatra.
    Rachaela überprüfte ihren Lesestoff nicht, und Emma glaubte daran, dass man den Verstand eines Kindes fordern sollte. Ruth erledigte ihre Hausaufgaben entweder in Emmas Wohnung oder auf dem dunkelblauen Bett. Sie besaß auch noch eine Topfpflanze, die auf der Kommode stand und David hieß. Die Pflanze, jeglichen Lichts beraubt, gedieh nicht gut, und schließlich zog David an eines von Emmas Fenstern um.
    Eine halbe Stunde nachdem Rachaela Ruth ins Haus kommen sah, ertönte Emmas Klopfen an der Tür.
    Rachaela ließ sie ein.
    Emma sah beunruhigt aus, doch gleichzeitig strahlend. Vielleicht hatte Ruth etwas besonders Überwältigendes angestellt, wie an dem Tag, als sie in der Schule zur Ersten Hofdame der Maikönigin gekürt worden war. Emma hatte darauf bestanden, dass Rachaela mitkam, und sie hatten im beißenden Maiwind vor dem Gatter gestanden, um zuzusehen, wie kleine Mädchen in rosafarbenen Kleidchen auf zitternden Beinchen Papierblüten streuten, während Ruth in dem roten Partykleid, das Emma ihr gekauft hatte, ein hübsches, einfältig grinsendes Kind mit Glitzerkram krönte.
    » Ruth isst gerade ihr Abendbrot«, sagte Emma. » Ich habe ihr die Würstchen gekauft, die sie so gerne mag, und Tomaten.«
    » Vielen Dank«, sagte Rachaela automatisch.
    » Es hat sich etwas ziemlich Schwerwiegendes ergeben«, sagte Emma.
    » Was hat sie angestellt?«
    Ruth hatte ein Gemälde von einem Drachen, der einen Ritter verschlang, gezeichnet, worüber ein anderes Kind augenscheinlich zu Tode erschrocken war. Jemand von der Schule hatte daraufhin Emma aufgesucht, die sich darüber vor Lachen

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