Schwarzer Tod
»Worte«, sagte er. »Sie sind ein Intellektueller, also müssen Sie allem eine große Bedeutung abgewinnen. Was habe ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung erzählt? Die Nazis kennen die wahre Natur des Menschen. Sie haben die Lust an der Macht zu einer Religion entwickelt. Und es funktioniert! Das könnte überall funktionieren, Doktor, selbst in Amerika. Ich wette, daß einige Ihrer Kollegen sich ebenso hinten anstellen würden, wenn sie die Chance bekämen, über Leben und Tod zu entscheiden. Es macht Spaß, Gott zu spielen.«
»Nein, tut es nicht, Stern. Das wissen Sie. Aber ich fürchte, daß wir es heute nacht trotzdem tun müssen.«
Als Stern nicht darauf antwortete, redete McConnell weiter. »Hitler hat nicht die wahre Natur des Menschen losgelassen. Er hat nur einen solch gewaltigen Sprung in den Wahnsinn getan, daß niemand auch nur annähernd begreift, was hier eigentlich vor sich geht. Aber wir wissen es, Stern, und das verpflichtet uns, etwas dagegen zu unternehmen.«
»Aber Sie haben gesagt, daß das britische Nervengas nicht einmal funktioniert.«
»Es könnte nicht funktionieren. Wir müssen es ausprobieren.«
Stern hob verzweifelt die Hände. »Dann machen Sie es doch! Versuchen Sie es!«
»Das werde ich auch, falls das nötig sein sollte. Warum sagen Sie mir nicht, was hier eigentlich los ist? Sie waren bereit, sich und auch alle anderen für den Erfolg dieses Einsatzes zu opfern, als Sie nach Deutschland gekommen sind. Jetzt weigern Sie sich. In den letzten beiden Tagen haben Sie nur allzu gern daran geglaubt, daß das Gas wirkt. Jetzt glauben Sie es nicht mehr. Etwas hat sich letzte Nacht verändert, Jonas. Was ist passiert? Was verheimlichen Sie mir?«
»Sie sind verrückt!« ereiferte sich Stern. Er stand auf und ging in der Küche umher. Die Muskeln in seinem Unterarm waren gespannt wie Drahtseile.
»Vielleicht bin ich das«, räumte McConnell ein. »Aber ich wäre weniger verrückt, wenn Sie mir sagen würden, warum Sie diesen Angriff nicht ausführen wollen.«
»Sagen Sie es ihm«, forderte ihn auch Anna auf, die am Ofen stand. »Oder ich werde es ihm sagen.«
Stern blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. Nach einem Augenblick glühten seine Augen vor Haß. »Wenn Sie das tun, bringe ich Sie um!«
»Fahren Sie doch zur Hölle!« schrie Anna. In ihrer Wut kannte sie keine Angst. »Oder verhalten Sie sich wie ein Mann! Das wäre besser!«
Irgend etwas beruhigte Stern wieder - vielleicht die Hoffnung, vielleicht aber auch nur der Wille, weiter zu lügen. Er schloß die Augen und lehnte sich gegen die Anrichte.
»Wie lange wissen Sie es schon?« fragte er.
Annas Stimme wurde weicher. »In der Nacht, als Sie hergekommen sind, sagten Sie, Sie kämen aus Rostock. Als ich Ihren richtigen Namen hörte, dachte ich einen Moment an den Schuhmacher. Aber Sie waren so anders ...«
»Wie anders? Was wissen Sie von ihm?«
»Nun, er repariert Schuhe für die SS und macht Ledersachen für sie.«
»Wollen Sie damit sagen, daß er ein Kollaborateur ist?«
»Nein. Nur, daß Sie so ganz anders sind als er. Anders genug, daß ich den Gedanken eine Weile verdrängt habe. Aber gestern habe ich ihn aus der Nähe gesehen. Da wußte ich es.«
»Wovon redet Ihr zwei eigentlich?« fragte McConnell. »Kennen Sie jemanden in diesem Lager?«
»Meinen Vater«, antwortete Stern so leise, daß er kaum zu verstehen war. »Mein Vater ist Gefangener in diesem Lager. Er ist seit drei Jahren hier.«
McConnell drehte sich zu Anna um und erkannte an ihrem Blick, daß Sterns Behauptung stimmte. »Himmel, warum haben Sie mir das nicht schon vorher gesagt? Sie hätten nur ...«
Stern brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich habe herausgefunden, daß ich ein Feigling bin, Doktor. Das ist kein sehr erfreuliches Gefühl. Sie haben recht: Ich war bereit, sie alle zu opfern. Und dann habe ich herausgefunden, daß mein Vater sich unter ihnen befindet, und nun bringe ich es nicht mehr fertig. Das ist erbärmlich.«
»Es ist menschlich, Stern.«
»Und Sie haben auch recht«, sagte Stern zu Anna. »Er und ich sind anders. Aber es ist meine Pflicht, ihn zu retten. Für meine Mutter.«
»Für Sie selbst, verdammt!« sagte McConnell. »Warum schleichen Sie sich nicht einfach hinein und holen ihn heute nacht raus? Ich hege keinen Zweifel daran, daß Sie das fertigbringen.«
»Er würde nicht mitkommen. Er ist verrückt. Er will die anderen nicht zurücklassen.«
Eine Weile sprach niemand. McConnell
Weitere Kostenlose Bücher