Schwarzer Tod
ohne ein weiteres Wort um und humpelte hinaus. McConnell hörte, wie er langsam die Treppe hinunterstieg. Die drei Treppen kosteten ihn beinahe drei Minuten.
Nachdem die Schritte verklungen waren, trat McConnell ans Fenster, öffnete es und sog gierig die kalte Luft ein. Er bekam eine Gänsehaut. Kaum hatte er sich endlich damit abgefunden, daß sein Bruder mutig in einem Luftkampf gefallen war, da tauchte Pascal Randazzo wie ein Gespenst auf, um ihm selbst diesen grimmigen Trost zu nehmen. David war nicht im Kampf gefallen. Er war brutal und kaltblütig ermordet worden. Von Hitlers berüchtigtem Schwarzen Korps. Den Schutzstaffeln. Der SS.
Eine von McConnells klarsten Kindheitserinnerungen war der Tag, an dem sein jüngerer Bruder geboren worden war. Ihr Vater hatte David selbst zur Welt gebracht. Seine medizinische Praxis hatte zwar schon lange brachgelegen, aber er hatte darauf bestanden, seinen eigenen Sohn zur Welt zu bringen. Mark erinnerte sich an den stolzen Ausdruck auf dem vernarbten Gesicht seines Vaters. Es war eines der wenigen Male gewesen, an dem sein Vater auf sich selbst stolz gewesen war und nicht auf seine Söhne.
McConnell stützte sich auf die steinerne Fensterbank und lehnte sich hinaus. Die Luft hier war anders als die in den schwülen Nächten seiner Jugend. Die dunklen Brüstungen und Kirchtürme, die sich aus den eiskalten englischen Pflastersteinen erhoben, sahen tatsächlich aus wie die Kulissen eines Robin-Hood-Films - wie eine große Burg, eine Festung. Und war das nicht genau das gewesen, wofür er es benutzt hatte? Eine Fluchtburg gegen den Krieg? Fünf Jahre lang hatte er hier in Sicherheit gearbeitet, während mutigere Männer als er ihr Leben Tag für Tag im Kampf gegen die Nazis aufs Spiel setzten. So wie Randazzo hatten sie zusehen müssen, wie Freunde starben, und trotzdem besiegten sie ihre Angst.
Ich kenne Sie, Doktor, hatte der junge Jude gesagt, der mit Brigadegeneral Smith gekommen war. Sie sind kein Feigling. Sie sind ein Narr. Sie glauben an die Vernunft, an das essentiell Gute im Menschen. Sie glauben, daß Sie dem Bösen Herr werden können, indem Sie selbst nichts Böses tun. Sie müssen noch einen Schluck aus dem Becher der Schmerzen kosten, den so viele in den letzten zehn Jahren bis zur bitteren Neige geleert haben ...
»Jetzt habe ich diesen Schmerz gekostet«, sagte McConnell leise zu sich selbst.
Das Brennen in seinen Eingeweiden war anders als alles, was er je zuvor empfunden hatte. Das ist die Wut, erkannte er plötzlich, eine unbefriedigte Wut, die so tiefgehend war, daß er ihr nicht einmal einen Namen geben konnte.
Er versuchte, die Worte kluger Männer aus seinem Gedächtnis zu streichen, mit denen er sich immer wieder die Sinnlosigkeit von Gewalt als Mittel für eine bessere Welt vor Augen geführt hatte. Aber im Vergleich mit den Bildern vor seinem geistigen Auge bedeuteten diese Worte ohnehin nichts. Sie waren einfach nur eine Anhäufung von Buchstaben, Symbole der Vergeblichkeit von Sprache im Angesicht von Taten.
Mark wandte sich vom Fenster ab und ging zu seinem kleinen, überladenen Schreibtisch. Eine Weile wühlte er in der obersten Schublade, und zog dann schließlich eine kleine weiße Karte heraus. Anschließend hob er den Hörer ab und meldete ein Telefonat nach London zu der Nummer auf der Karte an. Trotz der späten Stunde wurde der Anruf nach dem dritten Klingeln entgegengenommen.. »Smith«, meldete sich eine barsche Stimme.
»General, hier spricht Doktor Mark McConnell.«
Der General wartete eine Sekunde. »Was kann ich für Sie tun, Doktor?«
»Diese Reise, die sie erwähnt haben, nach Deutschland ...«
Smith knurrte. »Hm. Was ist damit?«
»Was es auch ist, ich mache es.«
Der General schwieg eine Zeitlang. »Schlafen Sie jetzt«, sagte er schließlich. »Und verabschieden Sie sich nicht. Darum kümmern wir uns. Ich schicke Ihnen um Punkt sechs einen Wagen.«
McConnell legte den Hörer auf die Gabel und marschierte aus dem Labor, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Um zehn Minuten vor Mitternacht klingelte das Telefon in einer Londoner Polizeistation. Der diensthabende Beamte hörte der barschen Stimme am anderen Ende eine Weile zu, legte dann auf und murrte: »Der Kerl glaubt wohl, er wäre ein verdammter Seelord.«
»Wer war denn das, Bill?« fragte der andere Polizist im Raum.
Der diensthabende Beamte straffte theatralisch die Schultern. »Brigadegeneral Duff Doof Smith, der war's!«
»Wer ist er denn, wenn er zu Hause
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