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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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diktiert!»
    Als der ahnungslose Korenzow kurze Zeit später aus dem Heimaturlaub zurückkam und düster wie eine Gewitterwolke durchs Werktor fuhr, wurde er höflich in die Parteileitung gebeten. Seine Frage nach der Rampe blieb unbeantwortet, stattdessen empfing ihn Fritz schon an der Tür mit «teurer sowjetischer Genosse». Korenzow zeigte sich in Anbetracht der ungewohnt herzlichen Begrüßung irritiert, dennoch fand er das Benehmen angemessen. Gefällig nahm er zur Kenntnis, dass sich zu seinem Empfang die gesamte Werkleitung aufgestellt hatte, versammelt um einen Tisch, der neben Bier- und Kornflaschen reichlich mit Thüringer Würsten gedeckt war. Diese Art von Begrüßung mochte Iwan Iwanowitsch an seinem Beruf besonders.
    «Das sieht sehr gut aus, was Sie hier vorbereitet haben! Und riecht auch sehr gut! Aber müssen wir nicht zuerst etwas arbeiten? Denn wie Genosse Lenin schon sagt …»
    Was der Begründer des Sowjetlandes zu sagen pflegte, erfuhren die Teilnehmer der Runde nie. Lorenz sprang dem Mann entgegen, umarmte ihn, als seien sie von Kindesbeinen an miteinander vertraut, zog ihn vom lockenden Tisch zur gegenüberliegenden Wand. Korenzow schaute entgeistert. Die Wand war von oben bis unten mit rotem Tuch bespannt. In den Ecken standen Fahnen, kunstvoll drapiert. Die Porträts von Thälmann und Lenin, die streng, aber nicht unfreundlich auf das Treiben vor ihnen blickten, markierten die Mitte der Komposition, während um sie herum mehrere Reihen in Goldrahmen gefasster Urkunden hingen. Ehe Korenzow etwas fragen konnte, begann Lorenz:
    «Iwan Iwanowitsch, wir wissen nicht, wie wir uns bedanken sollen. So viel Lob und Anerkennung wie von unseren sowjetischen Partnern haben wir noch nie bekommen.»
    Der Einkäufer las aufmerksam die Texte und wusste sofort, der Vorgang war geeignet, sein ausgeklügeltes Geschäftsmodell zu zerstören. Lorenz begann, das Geschriebene zu deklamieren. Auch wenn die meisten in der Runde des Russischen nicht mächtig waren, so ließen sie keinen Zweifel, dass sie alles verstanden.
    Als am späten Abend die Flaschen leer waren und Fritz das letzte Mal mit seiner satten Stimme den «Herrlichen Baikal» anstimmte, den er «auf einer Lachstonne» zwingen wollte, wusste Korenzow, dass es für ihn hier nichts mehr zu holen gab. Die Sache mit der Rampe konnte er vergessen. Er schaute Lorenz lange mit glasigen Augen an und zischte:
    «Kosa na kamen naschla …»
    Die Sense ist auf einen Stein gestoßen.

Das Jahr 1960:

    Lorenz Lochthofen während einer Belegschaftsversammlung im Waggonbau Gotha und als technischer Direktor.

Israel gibt die Festnahme von Adolf Eichmann bekannt. Armin Hary läuft als Erster die 100 Meter in 10,0 Sekunden. DDR-Präsident Wilhelm Pieck stirbt. Abschuss eines US-Spionageflugzeugs vom Typ U2 über der Sowjetunion. Öffentliche Kritik an Kanzlerberater Hans Globke wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR wird als abgeschlossen erklärt. In den USA kommt die Antibabypille auf den Markt. Die DDR-Propagandasendung «Der schwarze Kanal» hat Premiere. Nikita Chruschtschow schlägt in einer UNO-Debatte in New York mit dem Schuh auf das Pult. John F. Kennedy wird Präsident. In den DDR-Atlanten darf der Name Deutschland nicht mehr verwendet werden.

1960

I
    Fritz richtete sich schweißgebadet auf. Es war Sonntagmorgen. Durch das geöffnete Fenster brach Motorengeheul. Es klang, als würde unten auf der Straße jemand Kupplung, Gaspedal und Bremse zugleich treten. Dann hörte man jeden Zahn eines Getriebes knirschen.
    Gestern war es spät geworden, sein Röschen hatte Mitleid und ließ ihn ausschlafen. Nun das. Er taumelte zum Fenster, schlagartig war er hellwach. In der Hofeinfahrt, die auf die vielbefahrene Ausfallstraße nach Eisenach führte, rangierte ein Tankwagen der Roten Armee. Der mächtige «Sil» hatte sich durch ein ungeschicktes Manöver verkeilt. Während das Heck mit seiner kyrillischen Aufschrift «Ogneopasno», «Feuergefährlich», bereits in den Hof ragte, aber nicht an einem Sandsteinpfosten vorbeikam, wurde das Fahrerhaus auf der anderen Straßenseite von einen Baum fixiert. Rechts und links staute sich der Verkehr. Die Menschen stiegen aus ihren Autos und beobachteten das Treiben. Dabei wechselten sie vielsagende Blicke.
    Wieder röhrte der Motor, das Blech der Tankverkleidung kratzte am Sandstein. Fritz wurde blass: Ein Funke genügte, um die Häuserzeile in Flammen zu

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