Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
er sich gut vorstellen. Sofort hörte er wieder das Bellen der hungrigen Hunde, das Heulen der Purga.
Wollte er das?
Er wäre froh gewesen, die Entscheidung nicht selbst treffen zu müssen. All seine Bedenken, die Angst, darüber sprechen konnte man nicht. Die «unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion» ging über alles. Sie war der entscheidende Glaubenssatz ostdeutscher Politik. Wer den verletzte, war draußen. Egal, was einer da oben in der Tundra erlebt hatte. Egal, welche Gründe ihn leiteten. Und Gründe gab es mehr als genug. Denn es war offensichtlich, in der Sowjetunion ging nicht nur einiges, sondern das meiste schief. Die Millionen Toten des Gulag. Die völlige Rechtlosigkeit des Einzelnen. Die hoffnungslose Rückständigkeit der Wirtschaft. Über all das schwieg das neue, sich selbst als das bessere wähnende Deutschland. Die Ulbrichts und Piecks hatten verstanden. Die Letzten, die noch Fragen stellten, waren schon lange tot. Der Krieg war Geschichte, man munkelte, Stalin solle aus dem Mausoleum verbannt werden. Doch die Angst lebte weiter. Jeder Spitzenmann der SED war das immer nur von Moskaus Gnaden. Ein langes Band, an dem sie liefen, aber sie blieben angekettet.
Bereits wenige Tage nach der Rückkehr hatte Lorenz zur Kenntnis nehmen müssen, dass sein Traum von einem anderen Sozialismus in diesem anderen Deutschland ein Traum bleiben würde. Eine romantische Attitüde seiner Jugend, die, wenn er sich umsah, bei den meisten längst verkümmert war. Er hatte inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft, genauer die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik, erhalten. Gleich nach der Ankunft füllte er die Formulare aus und bekam bald einen deutschen Personalausweis. Zu der Zeit konnte so ein Papier, oder wie Lorenz nach russischer Art zu sagen pflegte: Dokument, nicht gesamtdeutsch genug klingen. Später änderte sich das radikal. Der Westen hatte den Osten aufgegeben. Der Osten bereits viel früher den Anspruch, das bessere Deutschland zu sein. Er war nur noch die bessere DDR.
Bewegt hatte Lorenz den neuen Ausweis in die Jackentasche gesteckt, auch wenn er aussah, wie eben alles in der DDR aussah. Grau. Dennoch dachte er nicht daran, seinen sowjetischen Pass abzugeben. Schon wegen der Kinder. Beide Jungs blieben Ausländer. Wie ihre Mutter. Lena war nicht bereit, in dieser Frage auch nur einen Millimeter nachzugeben. Im Gegenteil. Ein Gespräch mit ihr wurde immer schwieriger. Je tiefer er in die Arbeit eintauchte, sich die ersten Erfolge einstellten, umso vergifteter wurde ihre Beziehung. Als vorläufiger Tiefpunkt gestaltete sich eine Feier in ihrer ersten Gothaer Wohnung in der Reuterstraße.
Damit Lena nicht allein sitzen musste – im Gegensatz zum Deutsch der Kinder blieb ihres mangelhaft –, gehörte zu den Gästen auch ein russisches Ehepaar. Major Melichow, ein unterhaltsamer Mann, diente in der Gothaer Garnison; seine Frau arbeitete wie fast alle Offiziersfrauen nicht. So hatte sie viel Zeit für ihre Lieblingsbeschäftigung, das Tratschen, und für ihr wichtigstes Problem, das Abnehmen. Aber das sah man nicht. Allenfalls konnte man sich wundern, wieso das Kleid, in das sie sich auf wundersame Weise gezwängt hatte, nicht einfach platzte. Geladen waren auch die Buchhändlerin Karin und ihre Freundin Sonja. Karin hatte sich auf russischsprachige Literatur spezialisiert und beherrschte, wie ihre Freundin, die Sprache gut. Beide waren ledig und noch um einige Jahre jünger als Lena.
Zunächst zeigten sich die Gäste, ob nun Deutsche oder Russen, entzückt von der vorzüglichen Bewirtung durch die Hausfrau. Lena hatte sich auf ihren großen Auftritt vorbereitet. Pelmeni, Borschtsch, es schmeckte wunderbar, und da man sich reichlich einschenkte, herrschte alsbald ausgelassene Stimmung. Ein Plattenspieler wurde geholt, deutsche Schlager mischten sich mit russischen Romanzen. Als Lorenz zum vierten Mal Sonja zum Tanz aufforderte, fauchte Lena unüberhörbar. Als sich Lorenz später mit Sonja Wange an Wange wiegte, schritt sie zur Tat. Sie gab der jungen Frau eine saftige Ohrfeige, verschwand im Kinderzimmer und ließ sich trotz aller Versuche, etwas zu erklären, nicht mehr sehen. Die Gäste verabschiedeten sich, Sonja ward im Haus nicht mehr gesehen.
Lorenz wusste nun, in die Enge getrieben, konnte er Lenas Reaktion nicht mehr kontrollieren. Das hieß für ihn, die Zahl solcher Begegnungen klein zu halten. Er selbst fand durch die Arbeit sehr schnell Anschluss an
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