Schwarzes Gold Roman
unförmigen
Cordhosen und Schlabberpullis war verschwunden. In der Hochschule trat sie im
kürzesten Minirock Vestlands auf, mit hohen Absätzen und einem tief
ausgeschnittenen, hautengen Top, wo ein schweres Herz aus Gold zwischen ihren
Brüsten baumelte. Jeden Morgen legte sie gewissenhaft ein diskretes Make-up
auf – die dunklen Augen wurden dunkler, die roten Lippen röter. Sie sprach
nicht mehr Dialekt. Sie hatte mehrere Kilos abgenommen, obwohl sie aß wie ein
Scheunendrescher. Zu jeder Mahlzeit stürzte sie sich auf Klöße, Frikadellen,
Würstchen, Kartoffeln, Pizzastücke und noch mehr Fleischkuchen in fetter
Soße, am liebsten mit Gemüse. Anschließend machte sie sich an die Desserts,
Puddings, Soße und schob gerne noch ein paar Schokoladeneier, Gummibärchen,
Donuts und Puddingteilchen hinterher. Nach dem Essen ging sie zur Toilette.
Dort sank sie vor der Schüssel auf die Knie, steckte den Mittelfinger tief in
den Hals und spie alles wieder aus. Es war zur Routine geworden, sie
verschwendete kaum einen Gedanken daran. Sie wollte nur ihren Hunger stillen,
ihr Gewicht halten und Besserwissern aus dem Weg gehen. Sie brachte es nicht
fertig, sich das Bizarre an der Situation einzugestehen: Erst aß sie
hemmungslos, danach kotzte sie alles wieder aus. Es schmerzte ja doch nur, das
eigene Bewusstsein analytisch zu betrachten. Sie konzentrierte sich lieber auf
Konkretes. Lernen. Methodik, Ethik, Politik. Einige Kommilitonen machten
Renates Essgewohnheiten stutzig. Doch sie parierte neugierige Nachfragen mit
dem Satz: »Manchen ist eben beides gegeben, Hunger und eine Figur, die ihn
verträgt.«
Die Lehrer sahen in Renate eine perfekte Studentin – sie
war sexy und von schneller Auffassungsgabe. Renate war ein Weibchen, um das es
sich zu balzen lohnte. Sie saß in der ersten Reihe und brachte alle Männchen
im Raum ins Schwitzen, wenn sie nur ihr langes Bein ausstreckte und »aus
Versehen« ein Stück weiße Haut zwischen Strümpfen und Rock entblößte. Sie
arbeitete professionell, zurückhaltend und erzielte Topresultate. Sie hielt
eine kühle Distanz zum Lernstoff. Nur sehr selten zeigte sie persönliches
Engagement für einen Text. Doch wenn sie es tat, setzte sie eines der
erlesensten Geheimnisse des Feature-Journalisten ein: sich selbst. Was sehe
ich? Wie wirkt dieses Elend auf mich? Sie brach mit dem Journalistenkodex,
immer neutral zu bleiben. Doch dies war eine Zeit, in der persönliche
Bedürfnisse im Zentrum standen. Eine Zeit, in der diese Art
Experimentierfreude von den Lehrern als avantgardistisch angesehen wurde,
solange sie geistreich betrieben wurde – wie es Renate tat. Einen jener
Texte, der sie berührte, bekam sie an einem Frühlingstag 1985 ausgeteilt. Es
war ein Artikel, den der Lehrer aus dem
Dagbladet
ausgeschnitten
hatte. Er hatte folgenden Wortlaut:
Steuerfall vor Gericht
Ein Gerichtsprozess steht an, nachdem die Steuerbehörde Oslo
mit zwei Gegenstimmen beschlossen hat, Konzernchef Vebjørn Lindeman (52) und
den ehemaligen Geschäftsführer Georg Spenning (74) zu einer Steuernachzahlung
von insgesamt 8 Millionen Kronen zu verpflichten. Die Steuerbehörde bezichtigt
beide der Steuerhinterziehung zu Zeiten, als Lindeman die Geschäftsführung
von Spennings Reederei Spenning & Co innehatte. Weder Lindeman noch
Spenning waren gestern zu einem Kommentar über den Beschluss, der nun
vorliegt, bereit. Doch nach Information von Dagbladet haben beide die Forderung
angefochten.
Dagfinn Bløgger, Redakteur des Magazins Avanse, weiß mehr
als manch anderer über Spennings angebliches Auslandsvermögen. Er glaube, die
Steuerbehörde hätte in dieser Sache ihre Hausaufgaben nicht ordentlich
gemacht, äußerte er sich gegenüber Dagbladet. »Jetzt muss die Behörde
beweisen, dass es Einnahmen gab, die nicht besteuert wurden, und anschließend
müssen sie die Höhe des Betrages nachweisen. Und nicht zuletzt muss auch noch
bewiesen werden, dass Spenning und Lindeman de facto ökonomischen Vorteil
daraus gezogen haben. Mir ist nicht klar, woher die Steuerbehörde die Zahlen
hat«, fährt Bløgger fort. »Noch nie hat jemand Zahlen zu Gesicht bekommen,
am wenigsten die Polizei. Ich vermute, dieser Beschluss ist ein Schuss in den
Wind. Schlimmstenfalls ist er der Anfang eines schon im Vorhinein verlorenen
Rechtsstreits, der bis in die Ewigkeit geführt wird – auf Kosten des
Steuerzahlers.«
4
Am Samstag, den 8. Juni 1985, stand Anders
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