Schwarzes Prisma
von dem aus sie ihr Verlöbnis bekanntgegeben hatten, hatte Karris gedacht, dass sie wirklich glücklich werden würde. Sie hatte ihren Verlobten bewundert. Gavin gab immer eine gute Figur ab. Sie hatte jede Minute der Aufmerksamkeit genossen.
Beim Essen an jenem Abend hatte Gavin ihrem Vater gegenüber einen Scherz darüber gemacht, dass er Karris mit in sein Quartier nehmen und kein Auge zutun würde. Karris’ Vater, normalerweise so traditionell, der Mann, der stets geschworen hatte, dass seine Tochter keine Milch geben würde, bevor irgendein junger Satrap die ganze Kuh kaufte, der Mann, der Karris verprügelt hatte, weil sie Dazen ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte, dieser Mann, dieser Heuchler, dieser Feigling hatte nervös gekichert. Bis zu diesem Augenblick war Karris in der Lage gewesen, ihre aufkeimende Panik niederzukämpfen. Zumindest werde ich nicht mit ihm schlafen müssen, bis wir verheiratet sind, hatte sie gedacht. Ich werde mich in den kommenden Monaten in ihn verlieben können. Ich werde Dazen vergessen. Ich werde mein Schaudern vergessen, wenn er mich auf den Nacken geküsst hat. Ich werde dieses Anschwellen in der Brust vergessen, das ich jedes Mal verspürt habe, wenn er mich mit diesem verwegenen Grinsen bedachte. Alle anderen haben recht, Dazen ist nicht halb so viel Mann wie Gavin. Ich kann Dazen nicht mehr lieben, nach dem, was er getan hat.
Aber es hatte kein Entrinnen gegeben. Karris hatte ihre eigene Art von Feigheit gewählt und sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Ihr Vater hatte es zu spät gemerkt – oder gerade noch rechtzeitig, je nachdem, wie man es betrachtete – und den Dienern verboten, ihr noch mehr Wein zu geben, bevor sie am Tisch ohnmächtig werden konnte. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, was sie bei Tisch gesagt hatte, aber sie erinnerte sich daran, dass Gavin sie mehr oder weniger in sein Zimmer getragen hatte. Ihr Vater hatte ihr mit leeren Augen nachgesehen; er hatte nichts gesagt.
Sie hatte gedacht, der Rausch würde ihr helfen, fügsam, still und willig zu sein. Es hatte funktioniert, und sie wusste nicht, warum sie deswegen so bitter enttäuscht gewesen war. Als sie das Gesicht von seinen Küssen abgewandt hatte, hatte er die Geste für Schüchternheit gehalten und sie an anderen Stellen geküsst. Als er ihr das Hemd ausgezogen und sie sich mit den Händen bedeckt hatte, hatte er es für Züchtigkeit gehalten. Züchtig? Als sie mit Dazen zusammen gewesen war, hatte sie seine Blicke genossen. Sie war kühn gewesen, schamlos. Sie hatte sich wie eine Frau gefühlt – obwohl sie jetzt wusste, dass sie in vieler Hinsicht das Frausein nur gespielt hatte. Bei Dazen hatte sie sich schön gefühlt. Bei Gavin war sie von solch unaussprechlicher Verzweiflung erfüllt, dass ihre Schreie in ihrer eigenen Kehle erstickten. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie überhaupt protestiert hatte, ob sie ihn gebeten hatte aufzuhören. Sie hatte es tun wollen, aber ihre Erinnerung war umwölkt. Sie glaubte nicht, dass sie es getan hatte. Sie hatte weiter an ihren Vater und seine Worte gedacht: »Unsere Familie braucht das. Ohne diese Heirat sind wir ruiniert.« Und sie hatte sich nicht gewehrt.
Sie erinnerte sich jedoch, dabei geweint zu haben. Ein Kavalier hätte aufgehört, aber Gavin war betrunken und jung und geil gewesen. Da war nichts Sanftes an ihm gewesen. Als sie nicht bereit war und er ihr wehtat, hatte er ihre Proteste ignoriert und mit dem ganzen Verlangen eines jungen Mannes zugestoßen.
Weit davon entfernt, sie die ganze Nacht wachzuhalten, wie er geprahlt hatte, war er bald fertig gewesen. Dann hatte er ihr befohlen zu gehen. Die beiläufige Grausamkeit dieser Tat hatte ihr den Atem geraubt. Und sie hatte es akzeptiert. Sie hätte ihm die Augen auskratzen sollen.
Er hatte Karris nicht gewollt. Er hatte beweisen wollen, dass Dazen nicht haben konnte, was rechtmäßig ihm gehörte. Karris hätte geradeso gut ein Baum sein können, an den er nach dem letzten Hund pinkelte, um sein Territorium zurückzuerobern.
Sie war durch die Hallen getaumelt, in diesem schönen Kleid, an dem die Hälfte der Knöpfe offen stand – das verdammte Ding erforderte die Hilfe von Dienerinnen, um es zuzuknöpfen. Natürlich war sie gesehen worden. Irgendwie war sie nach Hause gekommen, nicht in ihr Haus auf Großjasper, das bis auf die Grundfesten niedergebrannt war, sondern zu ihrer Wohnung in der Nähe. Ihr Vater war aufgeblieben, aber er sprach kein Wort,
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