Schwarzkittel
die Kinder mit, auch wenn sie nicht alles verstanden hatten. Johannes versuchte gerade pantomimisch, seiner Schwester den Kopf zu waschen.
»Hört auf, ihr zwei«, schalt ihre Mutter. »Es wird sowieso Zeit, dass ihr ins Bett kommt. Morgen müsst ihr wieder in die Schule, ein Tag Schulschwänzen ist genug.«
»Oh, Mama«, riefen beide gleichzeitig, doch ihre Mutter blieb eisern. Sie begann aufzuräumen. Für wenige Wochen mussten sie noch in ihrer alten Wohnung bleiben. Doch die Tage waren gezählt. Ich half ihnen, die Sachen ins Auto zu tragen.
»Du scheinst schon lange nichts mehr gegessen zu haben«, sprach mich Christin mit einem Blick auf die leere Schüssel an, in der vor Kurzem eine Handvoll Frühlingsrollen gelegen hatte.
»Och, weißt du, nicht dass du meinst, die Dinger hätten mir geschmeckt. Das war nur reiner Hunger«, log ich, um sie etwas zu ärgern. Ein paar Minuten standen wir gemeinsam vor dem neuen Haus. Johannes und Mara erzählten mir stolz, dass sie mit ihrem Papa auf der langen Leiter ins Obergeschoss geklettert sind und ihre Kinderzimmer in Beschlag genommen hatten. Christin war aufgrund der wackligen Leiter nicht so erpicht darauf gewesen, das Obergeschoss zu betreten. Sie wollte doch lieber abwarten, bis die Treppe eingebaut worden war.
Nach einer längeren Abschiedszeremonie fuhr ich nach Hause. Es war bereits dunkel geworden und am klaren Herbsthimmel funkelten die ersten Sterne. Ich kam ins Grübeln. Diese Himmelskörper sollen über Erfolg oder Misserfolg im täglichen Leben entscheiden? Sie sollen verantwortlich für mein Denken und Handeln sein? Als rationaler Mensch fand ich zu solch absurdem Glauben keinen Zugang. Ich war mir sicher, das war auch besser so. Im Prinzip war ich mit meinem bisherigen Leben ganz zufrieden, selbst wenn ich nicht wusste, wo sich zufällig gerade die Sterne oder Planeten befanden. Na ja, vielleicht bis auf die Sache mit Stefanie. Aber dabei konnten mir die Overath’schen Karten bestimmt nicht helfen. Das Problem lag einzig und allein in mir begründet. Immerhin wusste ich, dass ich diesbezüglich an mir selbst arbeiten musste. Ich strengte mich wirklich an, doch irgendwelche dummen Zufälle kamen mir in der Vergangenheit regelmäßig dazwischen.
Daheim angekommen schlich ich schnell ins Haus, um einer Ackermann’schen Verbalattacke zu entgehen. Ich hatte Glück, der Planet der vibrierenden Zunge musste gerade in Opposition zum Sternbild Ehegatten gestanden haben.
Ich hasste Anrufbeantworter. Besonders, wenn es mein eigener war und er aggressiv blinkte. Meistens war alles, was er mir zu sagen hatte, mit Arbeit verbunden. Oft genug ärgerte ich das blöde Teil und ließ es einfach weiterblinken. Doch was, wenn Stefanie angerufen hatte? Oder ein Kollege wegen etwas Wichtigem zum aktuellen Fall? Ich drückte den Wiedergabeknopf.
›Hallo, Reiner‹, tönte Gerhards Stimme aus dem Kasten, ›bist du immer noch nicht aus Haßloch zurück? Wo steckst du denn? Bei uns ist inzwischen die Ermittlungs akte der Staatsanwaltschaft eingetroffen. Jutta hat schon mal Daumenkino gespielt. Sie meinte, die Unterlagen seien recht interessant, aber es wären keine Anhaltspunkte zu finden, die Parallelen zu Haßloch zuließen. Unsere nächste Teamsitzung haben wir für morgen um 9 Uhr vereinbart. Ich hoffe, es ist nicht zu früh für dich. Und lade endlich mal dein Handy auf.‹
Gerhard hatte recht. Doch das Handy lag draußen im Wagen, gefährlich nahe bei der Nachbarschaft. Ich beschloss, es gleich morgen früh zu laden.
Ich war zu Hause, und ich war satt. Zudem hatte ich Kleider an, damit waren zumindest die drei menschlichen Grundbedürfnisse gedeckt, die ich in der Schule mit ›Nahrung, Kleidung, Unterkunft‹ lernen musste. Als erweitertes Grundbedürfnis schnappte ich mir die Tageszeitung und setzte mich auf die Couch. Nur für eine halbe Stunde, dann würde ich ins Bett gehen.
9.der Professor spricht
Um 8 Uhr des nächsten Tages riss mich mein Telefon aus dem Schlaf. Ich benötigte einen Moment, um zu bemerken, dass ich auf der Couch zwischen den Kissen lag. Mit steifem Hals und steigendem Harndrang tapste ich zum Telefon.
»Ja?«, stöhnte ich in den Hörer.
»Dietmar Becker hier. Spreche ich mit Reiner Palzki?«
»Ja«, ächzte ich aufgrund meiner körperlichen Verfassung erneut.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich nachgefragt habe, aber Ihre Stimme klingt so anders.«
»Wirklich?« Ich versuchte, zu meiner normalen Tonlage zurückzukehren. »Was
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