Schwarzwaldau
Gegenden und Orten; Dörfer, Flecken, sogar eine kleine Landstadt berührten sie auf dieser ›Entdeckungsreise.‹ Ueberall sprachen sie ein, bestellten was zu haben war, ließen ungenossen was sie bestellt und bezahlten es doppelt, scherzten mit den Wirthsleuten, beschenkten Dienstboten und Kinder, stiegen wieder ein, fuhren weiter und stiegen wieder aus; . . . doch ihre Bangigkeit wollte nicht weichen: Eines steckte immer wieder das Andere mit der seinigen an; es wollte ihnen nicht leichter werden um ihre Herzen und der Tag wollte sich nicht umbringen lassen, er nahm gar kein Ende. Und war doch wirklich um keine Secunde länger, als er im Kalender steht. Emil hatte sich vorgesetzt, wie sie mit der Morgen-Dämmerung ausgezogen, erst zur Abend-Dämmerung wieder einzuziehen im Schlosse Schwarzwaldau. Zwanzigmal in einer Stunde zog er die Uhr, um nachzusehen, ob diese Stunde nicht rascher vorübergehen wolle, als ihre bleiernen Schwestern? und jedesmal wiederholte er kopfschüttelnd: »
vulnerant omnes.
«
»Was heißt das?« fragte Gustav, nachdem er es oft genug gedankenlos mit angehört, gerade da sie endlich nach Sonnenuntergang auf dem Rückwege den schon zu Schwarzwaldau's Gebiete gehörigen, sogenannten Herrenwald erreicht hatten, der einen mäßigen Hügel, – den einzigen dieser flachen Gegend – bedeckt. »Was heißt:
vulnerant omnes?
»Sie verwunden alle, heißt es,« erwiderte Agnes. »Sie verwunden alle, die letzte tödtet,
ultima necat.
So weit reicht mein Latein; weiter nicht.«
»Also sind Wunden damit gemeint?«
»Allerdings.«
»Dann hat der alte Herr, der diesen weisen Wahlspruch ausheckte, über einer Dummheit gebrütet. Alle verwunden nicht. Es giebt denn doch einige . . . .«
»Und wer bürgt dafür,« unterbrach ihn Agnes, »daß diese nicht gerade die tiefsten, schmerzlichsten Wunden hinterlassen, wenn auch unsichtbare?«
»Ja wohl, ja wohl!« seufzte Emil – und ließ die Hände sinken, daß die Zügel fast herabglitten. Halb nach den hinter ihm Sitzenden gekehrt, sah er sie trübselig an: »Trägt nicht ein Jeder seine Wunden und Narben, nur daß Einer sie besser zu verstecken weiß, wie der Andere?«
Die Pferde gingen langsam; sie zogen schwer durch den Sand des steilen Hügels hinauf. Eben langten sie droben an, da krachte aus dem Dickicht ein Schuß. Im Nu hatten die Pferde durch einen heftigen Ruck dem auf sie nicht achtenden Lenker die Zügel aus den Fingern gerissen und obgleich sonst an Jagd gewöhnt und feuerfest, rannten sie unaufhaltsam den Abhang hinunter, der unglücklicherweise gegen die Abendseite sich neigend, mit dichtem Rasen bewachsen und deßhalb nicht so ausgebrannt und aufgewühlt war, wie jener, auf dem sie emporgestiegen. Der Wagen rollte ihnen an den Leib, drängte sie und machte sie noch toller. Zur Rechten hin war ein Theil des Waldes, den Raupenfraß angegriffen, im vorigen Winter niedergeschlagen worden; die Ueberreste der Baumstämme wurzelten noch im Boden. Ueber diese nahmen die rasenden Thiere, unerwartet ausbiegend, jetzt ihren Weg. »Dort unten liegt die Kiesgrube,« schrie Gustav und sprang herab, um sich wo möglich noch vor die Pferde zu werfen, deren Eil durch einzelne Baumstummel doch ein wenig gehemmt wurde. Emil that desgleichen. Beide fielen zur Erde. Als sie sich wieder aufrafften, war der Wagen schon fern. Agnes, in ihr Tuch gehüllt, regte sich nicht. Die Männer schrieen ihr zu, auch sie solle den Sprung in Gottesnamen wagen! – vergeblich; schon zu spät! – Alles war verschwunden, in die Grube hinuntergestürzt.
Binnen einer Minute waren sie bei ihr. Sie lag, das schöne Antlitz von scharfem Kiessand geschunden, das zerschmetterte Haupt auf einem großen Steine; die Pferde mit gebrochenen Beinen, der zertrümmerte Wagen eine Strecke davon. Emil und Gustav warfen sich neben ihr nieder. Sie reichte jedem eine Hand. Daß sie sprechen wollte, war sichtbar; Blutströme, aus der Brust hervorquellend, hemmten ihre Rede. Gustav heulte vor Schmerz und Wuth. Emil war bleich und stumm. Rathlos Beide. Sie bewegte die Lippen: »
Ultima necat!
« flüsterte sie und: »mein Latein am Ende!« Dann legte sie den Finger auf den Mund, als wollte sie den beiden Männern Schweigen gebieten und das brechende Auge, nach ihnen gerichtet, ergänzte die Bedeutung dieser Geberde. –
»Sie ist todt!« sagte Emil.
»Und mit ihr mein besseres Leben,« stöhnte Gustav. »Ich bin ein Verlorener.«
Dann hoben sie den Leichnam auf und trugen ihn
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