Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
ein.
»Ja. Im Dorf kursierten damals natürlich die wildesten Gerüchte. Mutter mit sechzehn. In der Provinz! In den Wochen vor der Geburt hat Sina sich meist im Haus aufgehalten, um den Anklagen und dem Sermon des Pfarrers zu entgehen. Ihre Eltern ebenso. Sie haben zu ihr gestanden, haben keinerlei Vorwürfe erhoben.«
Während Hanna sprach, dachte Ehrlinspiel an seine eigenen Eltern. Sie hätten ähnlich gehandelt, wenn eines ihrer Kinder in Not geraten wäre. Ohne Bedingungen zu stellen.
»Felix hatte nicht genügend Gewicht und war ziemlich schwach in den ersten Tagen«, berichtete Hanna. »Sina hat ihn nicht aus den Augen gelassen, saß Tag und Nacht neben der Wiege, wachte, stillte ihn, wenn er hungrig war, und lauschte seinem Atem, wenn er schlief. Draußen war es eisig kalt und seit Tagen dick verschneit, Sina traute sich nicht vor die Tür mit dem Baby. Eines Abends nickte sie ein, als sie ihm ein Lied vorsang. Vor Erschöpfung. Als sie in der Nacht aufwachte, wirbelten vor dem Fenster dichte Schneeflocken – und die Wiege war leer. Alles, was ihr geblieben war, war der Abdruck seines Köpfchens auf dem hellblauen Kissen. ›Mein Herz hat stillgestanden‹, so hat Sina es formuliert.« Hannas Miene wirkte traurig. »Schrecklich, oder?«
Ehrlinspiel nickte. »Ja.« Das also meinte Elisabeth in ihrem Brief.
Was passiert ist.
Die Frage war bloß: Warum hatte Elisabeth deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt? Sie hatte ja wohl kaum das Kind der Freundin geklaut.
Sinas Geschichte berührte den Kommissar, obwohl die Elternrolle ihm völlig fremd war. Hoffentlich nicht für immer, dachte er.
»Was geschah dann?«
»So, wie ich es verstehe, hat sich die Tragödie nach Felix’ Verschwinden intensiviert. Sina suchte wochenlang nach ihrem Sohn. Anfangs half ihr ihre Clique noch dabei. Hermann, Elisabeth, Johannes, Renate.«
»Und die Polizei?«
»Wusste von nichts. Das Dorf hat eine offizielle Suche verhindert, sagt Sina. Sie wurde verdächtigt, ihr Kind selbst getötet und versteckt zu haben, um der Schmach der ehelosen Geburt zu entgehen. Der Druck muss enorm gewesen sein.«
»Und das haftet ihr bis heute an.«
»Sie haben es gehört heute Morgen, das Gemunkel nach dem Gottesdienst.«
Der Kriminalhauptkommissar nickte. »Wer Sünde begeht.«
»Und nun scheinen sie Johannes als Sünder abzustempeln.«
»Sina eine Kindesmörderin, Johannes ein Mörder.«
»Ja. Interessant ist aber auch, dass damals viele Leute behaupteten, der Rabenmann hätte Felix geholt.« Hanna redete jetzt schneller. »Das soll ein Geist sein, der in der Rabenschlucht haust. Er ist das Opfer eines uralten Mordes und wurde angeblich unschuldig dort gehängt. Noch vor seiner Hinrichtung hat er Rache geschworen.« Hanna Brock war jetzt richtig in Fahrt. »Ich hatte das schon einmal recherchiert, wegen der Gerichtsstätte. Davon habe ich Ihnen ja erzählt, am ersten Abend.«
Ehrlinspiel rutschte auf dem Stuhl etwas nach vorn. »Wann haben Sie eigentlich mit Sina gesprochen?«
»Gestern Nachmittag. Warum?« Sie hob eine Augenbraue.
Ehrlinspiels Zorn kehrte schlagartig zurück.
Er fuhr hoch und richtete den Zeigefinger auf Hanna. »Erstens: Sie haben die ganze Zeit gewusst, was es mit diesem Rabenmann auf sich hat. Und trotzdem haben Sie, als wir heute Mittag darüber sprachen, die Unwissende gespielt und sogar
mich
nach ihm gefragt. Zweitens: Felix’ und Elisabeths Verschwinden liegen nur zwei Monate auseinander. Und Sie rücken erst jetzt mit derart wichtigen Fakten heraus. Was zum Teufel denken Sie sich eigentlich dabei?«
Hanna baute sich vor Ehrlinspiel auf und schob die Unterlippe vor. »Nur weil Sie das nicht selbst herausgefunden haben, müssen Sie nicht über mich empört sein.«
»Oh nein, so läuft das nicht.« Der Hauptkommissar ging zur Tür. »
Sie
sagen
mir,
was Sie wissen. Basta.«
»Ach so. Mann befiehlt, Frau pariert.«
Ehrlinspiel hielt im Hinausgehen inne und drehte sich um. »Jetzt werden
Sie
unsachlich. Ich bin Polizist. Sie sind Zeugin. Ganz unabhängig vom Geschlecht. So einfach ist das.«
»Sina weiß bis heute nicht, was aus Felix geworden ist. Es frisst sie auf.«
»Und Sie beschützen sie jetzt vor dem Bösen, ja?«
»Ich fühle mit Sina.«
Ehrlinspiel blickte die Redakteurin an. Er reagierte viel zu emotional, das wurde ihm mit einem Mal bewusst. Und Brock war offenbar auch nicht vor Gefühlsausbrüchen gefeit. Aber sie war ja auch eine Frau. Wenigstens
er
musste objektiv bleiben. »Wer ist der
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