Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
mehr. Keine Verletzungen. Sie musste herausfinden, wohin sie wollte im Leben.
Im Schutz eines Waldsaumes wanderte sie weiter, um in einem großen Rundweg wieder zum Dorf zu gelangen.
Als sie an eine Lichtung kam, blieb sie stehen, gefangen von den Erinnerungen an Elisabeths Leiche. Der türkisfarbene Mantel. Das blutige Haar, die halboffenen Augen, die sie erst beim Nähertreten erkannt hatte. Das Rascheln im Gebüsch. Ihre Flucht.
War das nicht dieselbe Lichtung? Geschützt und windstill? War sie so nahe an der Rabenschlucht? Hanna trat näher. Tatsächlich! Reste eines rot-weißen Absperrbandes hingen an den Bäumen, der Boden war zertrampelt. Der Ort lag stumm.
Sie schloss die Augen, hörte den leisen Stimmen des Windes zu, der ihr ein beruhigendes »Pst, pst!« zuzuflüstern schien. Doch sie war nicht beruhigt. Die Stille war nicht die der Verlassenheit. Es war die Stille des Grauens. Der Gewalt. Jeder Baum, jedes Stückchen Erde hier atmete das Böse. Und der Wind trug es zu ihr.
Ein Zittern befiel sie, sie öffnete die Augen, starrte auf die Stelle, an der Elisabeth gelegen hatte. Nichts war zu sehen.
Doch was war das? Litt sie unter Verfolgungswahn? Reglos lauschte sie. Schleppende Schritte, Atmen. Ihre Kehle wurde trocken, in ihren Ohren rauschte das Blut. Lauf weg, sagte sie sich, doch ihre Beine waren wie in Ketten aus Blei gelegt.
Lauf weg! Vielleicht ist gar nicht Bruno der Schuldige, sie haben den Falschen verhaftet, und jetzt kehrt der wahre Mörder an den Ort seiner Tat zurück!
Kam Sina hierherauf? Der Rabenmann?
Mach dich nicht lächerlich!
Sie konzentrierte sich auf ihre Beine, schaffte es, hinter ein Gestrüpp zu kriechen, als sie ihn nur wenige Meter entfernt auf die Lichtung treten sah.
Joseph Sommer. Der Alte mit den behaarten Ohrläppchen. Elisabeths Vater. Vor Erleichterung hätte sie fast losgelacht. Sie sah ihn suchend umhergehen und zögernd zu dem Moos laufen, auf dem Elisabeth gelegen hatte. Dort stand er lange, reglos, mit hängenden Armen. Dann bückte er sich, strich mit der Hand über das, was die Spurensicherung von dem Totenbett übrig gelassen hatte.
Er verabschiedet sich von seiner Tochter, dachte sie. Vielleicht auch von Bruno. Ihm sind gewissermaßen zwei Kinder genommen worden. Kein Wunder, dass es ihn in die Einsamkeit zieht, dass er sehen will, wo Elisabeth gestorben ist. Hier kann er weinen, allein, ohne von der zänkischen Frieda dafür mit Hohn bedacht zu werden. Hanna konnte es verstehen. Und sie wünschte, auch Sina hätte einen Ort, um sich von Felix zu verabschieden.
Joseph kniete sich nieder. Sein Profil wirkte konturlos.
Für Zurückbleibende musste es ein Alptraum sein, wenn ein Mensch spurlos verschwand. Keine Chance, mit dem Verlust abzuschließen. Immer ein Funken Hoffnung im Herzen. Hätte Sina Gewissheit über Felix – und selbst wenn es das Wissen um seinen Tod wäre –, könnte sie vielleicht neu anfangen. Aber so … Ob Felix noch lebte?
Sina erfuhr keine Unterstützung im Dorf. Der Vater Alkoholiker. Die Mutter tot. Sie selbst abgestempelt als Sünderin und gar Kindsmörderin. Freunde: keine mehr. Blieb vielleicht noch David Lavie.
»David will, dass ich nach Freiburg komme. Bei ihm einsteige«, hatte Sina ihr offenbart.
»Aber Ihnen fehlt das Geld?«, hatte Hanna gemutmaßt.
Sina hatte genickt. Und gesagt: »Elisabeth …« Dann hatte ein neuer Weinkrampf sie geschüttelt.
Hanna hatte sich gewundert, wie in einer so zierlichen Person so viel Wasser gespeichert sein konnte. Und wie es möglich war, trotzdem so welk auszusehen.
»Lassen Sie sich Zeit«, hatte Hanna erwidert. Und heimlich das Tonbandgerät in ihrer Tasche eingeschaltet.
Sina hatte vom Testament und Brief Elisabeths berichtet. Das war gestern Nachmittag gewesen. Heute Morgen hatte Sina noch einmal fünf Jahre älter gewirkt. Und keiner interessierte sich dafür, wie es ihr ging.
Leises Schluchzen drang herüber. Hanna wagte nicht, sich zu rühren, Joseph in seinem einsamen Lebewohl zu stören.
Ein Tropfen klebte auf ihrer Wimper. Sie blinzelte ihn weg. Doch die Erkenntnis, die sie beschlich, blieb: Auch sie war einsam. Die preisgekrönte, umjubelte Redakteurin war allein auf sich gestellt. Gierig hatte ihre Umwelt nach einem Stückchen des süßen Erfolgskuchens gelechzt. Aber von der wirklichen Hanna nichts abhaben wollen.
Außer Kora hatte sich niemand mehr um Hannas Schicksal geschert. Job weg. Partner weg. Freunde weg. Marion von der Bildredaktion. Die sich so
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