Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
Ende an einer Seite der Öffnung an und schlug so noch mehr Putz ab. Hinter dem Hühnerdraht und der Verschalung klemmte vergilbtes Zeitungspapier, das als Dämmmaterial gedient hatte. Sie streckte zwei Finger durch eine Masche des Drahtes, erwischte ein Blatt und zog es heraus. Als sie es glattgestrichen hatte, sah sie das Datum: 1932.
Es dauerte lange, das Papier aus der Wand zu zupfen, aber sie hatte weder die Kraft noch einen Hebelansatz, um den Draht zu herauszureißen. Das Einzige, was sie zustande brachte, war, einige der Maschen weiter auszudehnen. Nachdem sie das Papier herausgepult hatte, konnte sie die Außenwand erkennen: eine unlackierte Holzverkleidung.
Sie schob eine Hand vor dem Loch hin und her – tatsächlich fielen ein paar Sonnenstrahlen durch die Öffnung hindurch auf ihre Haut. Hoffnung regte sich in ihrer Brust. Während sie versuchte, den Draht auseinanderzubiegen, sang sie eines der Lieblingskirchenlieder ihre Mutter:
Singt unserm Herrn ein dankvoll Lied
.
Ihre Finger waren bereits wund und zerschnitten, dennoch gelang es ihr, eine Öffnung freizulegen, durch die sie ihre ganze Hand strecken konnte. Solange das Loch noch klein genug war, um es zu verbergen, wollte sie einen Blick nach draußen werfen. Wenn der Durchschlupf einmal vergrößert war, würde sie so schnell wie möglich flüchten müssen, ehe die Männer zurückkamen, also hieß es zunächst, darauf zu warten, dass es dunkel wurde.
Bitte, Herr, lass alles gut gehen
, flehte sie, während sie eine der Plastikflaschen in das mühsam geschaffene Loch schob und sie dahinter in eine Lücke zwischen zwei Brettern der Verkleidung zwängte. Die Flasche war gerade lang genug, dass der Flaschenboden noch durch das Loch ragte. Sie machte sich bereit und trat mit aller Kraft zu.
Mit einem lauten
Rumms
knallte die Flasche gegen die Holzverkleidung, Lena konnte Stoß im ganzen Körper spüren. Sie hielt den Atem an. Hatte das jemand gehört?
Kein Laut drang zu ihr durch. Sie zog die Flasche wieder heraus und prüfte die Außenwand. Der Schlitz zwischen den zwei Planken war ein wenig größer geworden. Sollte sie es noch einmal probieren? Oder lieber das Loch im Innern der Wand vergrößern, bis sie hindurchpasste, und dann später die Verkleidung eintreten, obwohl das einen Heidenlärm verursachen würde?
Doch die Aussicht auf Sonnenschein war einfach unwiderstehlich und die Sehnsucht nach Kontakt mit der Außenwelt übermächtig. Und schließlich musste sie das Gelände noch im Hellen in Augenschein nehmen und ihre Flucht planen, versicherte sie sich selbst.
Sie tauschte die Flasche gegen eine neue aus, die sie an der unteren Kante des herausgebrochenen Putzes in die Wand trieb. Die Lücke war dort groß genug, dass die Flasche von alleine hängenblieb. Das war vielversprechend.
Sie lehnte sich zurück und trat zu. Dieses Mal hörte sie neben dem dumpfen Aufprall das Geräusch von splitterndem Holz.
Rasch schob sie den Wasserpack vor das faustgroße Loch im Putz. Doch niemand kam, um dem Lärm nachzugehen.
Voll neuen Mutes legte sie das Loch wieder frei und zog die Flasche heraus. Das Plastik war zerquetscht, die Flaschenöffnung zertrümmert. Das war nicht schlimm, sie hatte noch jede Menge Vorrat. In Bauchlage schob sie sich so nah wie möglich auf das Loch zu und presste das Gesicht an die verputzte Wand.
Die Verkleidung war in der unteren Ecke abgesplittert. Sie versuchte, mit den Fingern heranzukommen, tastete nach einem Halt, ohne auf den Draht zu achten, der ihr dabei in die Handknöchel schnitt. Dann rüttelte sie an dem Eckstück, bis es sich schließlich löste, und ein Sonnenstrahl traf sie direkt ins Auge traf. Sie blinzelte, weinte vor Schmerz und Freude.
Danke, Herr! Ich danke Dir!
Sie drückte ihr Gesicht gegen die Öffnung, um mehr als den kleinen Ausschnitt Erde ins Gesichtsfeld zu bekommen, den das Loch bislang freigab. Dann steckte sie ihre Finger hindurch, versuchte noch mehr von der Verkleidung abzubrechen, doch die widersetzte sich hartnäckig.
Nachdem sie die Hand wieder zurückgezogen hatte, spähte sie noch einmal durch das Loch, atmete die frische Luft und den Duft der Freiheit ein.
Mit einem Mal verschwand das Sonnenlicht. An seine Stelle trat ein mandelförmiges braunes Auge ohne jedes Weiß, rundherum von braungrauer Haut mit tiefen Furchen eingerahmt.
Sie keuchte erschrocken auf. Das Auge blinzelte. Dann verschwand es und wurde von einer Schnauze mit flachen flatternden Nasenlöchern ersetzt,
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