Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
ihrem Kaffee und blätterte die losen Papiere in Hales Schachtel durch. Dann rief sie Boone an.
»Butler-Vollzugsanstalt, Boone am Apparat«, meldete er sich kurzangebunden.
»Tierney hier. Ich habe mich nur gefragt … könnte Hales Überdosis auch absichtlich verabreicht worden sein?«
»Selbstverständlich war sie das – er hat versucht, sich umzubringen. Ach so, Sie meinen, ob jemand anderes ihm die Mittel eingeflößt hat?« Er überlegte einen Moment lang. »Den Ärzten gegenüber hat er angegeben, sie sich selbst verabreicht zu haben …«, sie hörte Papiergeraschel, »… weil es ihn so sehr bedrückt habe, dass seine Tochter nach einem Streit nicht mehr zu ihm kam.«
Also hatte Hale den Ärzten gegenüber nicht erwähnt, dass Lena verschwunden war. Irgendjemand war jedoch davon ausgegangen, dass Lena, was auch immer sie gerade plante, Hale damit einen Grund liefern würde, auszupacken … und dabei konnte es nur um den Mord gehen, wegen dessen er vor fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden war. »Tierney, sind Sie noch dran?«, riss Boones Stimme sie aus ihren Gedanken. »Die Aufzeichnungen des Arztes geben keinerlei Aufschluss darüber, ob die Überdosis selbst verabreicht wurde oder nicht, aber das heißt gar nichts.«
»Werden Sie dem nachgehen?«
»So gut ich kann. Eines steht fest, die Sureños können es nicht gewesen sein. Die beiden befanden sich zu dem Zeitpunkt in Isolationshaft.«
Sie dachte nach. »Hat Hale vor dem Vorfall noch jemanden angerufen?«
»Wir sind immer noch dabei, die Aufzeichnungen durchzugehen. Bei neunhundert Insassen wird das noch etwa einen Tag dauern.«
»Aber es werden doch alle Gespräche, die nach draußen gehen, aufgezeichnet, oder nicht? Wenn Sie die Aufnahme finden, hätte ich gerne eine Abschrift.« Von offizieller Seite her stand ihr eine solche Forderung gar nicht zu, und das wusste Boone auch.
»Sie verschweigen mir etwas.« Sein Tonfall klang eher resigniert als vorwurfsvoll.
»Nicht wirklich. Jedenfalls nichts Konkretes.«
»A-ha. Schätze das ›Special‹ in Ihrer Berufsbezeichnung bezieht sich auf Ihre ›spezielle‹ Vorgehensweise, was?«
Als hätte sie solche Sprüche noch nie gehört. »Ganz im Ernst, wenn ich etwas herausfinde, das Sie wissen müssen, dann werde ich anrufen.«
»Ich kann es kaum erwarten.« Er legte auf, bevor ihr eine ähnlich schnippische Antwort einfallen wollte.
Das bestellte Essen kam, der Teller randvoll mit Sauce, und mit einem genüsslichen Seufzer griff sie zu. Die Milch dazu war so kalt, dass ihr beim ersten Schluck das Blut aus dem Kopf wich. Sie aß mit einer Hand und versuchte nebenbei, so etwas wie Ordnung in Hales Notizen zu bringen. Lauter Skizzen bekannter Bauwerke, unter anderem die Innenansicht einer ägyptischen Pyramide.
Die Notizbücher waren mit ähnlichen Zeichnungen gefüllt, außerdem fand sie detaillierte Materiallisten und Bauanweisungen. Eine der Kladden war auf jeder Seite mit Zeichnungen eines Hauses vollgekritzelt, das Caitlyn gleich wiedererkannte: Hales Haus in Evergreen, North Carolina, hoch oben auf dem McSwain Mountain. Das einzige Haus, das noch weiter oben am Berg lag, war Caitlyns Elternhaus. Darüber gab es nur noch die Forellenzucht aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Sie war das erste geschäftliche Wagnis der Familie McSwain gewesen.
Ihre Mutter und ihr Onkel waren stets stolz auf den Namen McSwain gewesen. Onkel Jimmy hatte so gut wie jedes Fleckchen Land zurückgekauft, das die Familie über die Jahre verloren hatte; als Hochzeitsgeschenk hatte er Caitlyns Mutter und ihrem Vater das zweihundert Jahre alte Bauernhaus vermacht, den ehemaligen Familiensitz der McSwains.
Caitlyn hatte das alte Haus geliebt, das selbst dem stärksten Schneesturm und jedem Frühlingsunwetter trotzte. In seiner knapp bemessenen Freizeit war ihr Vater stets irgendwo im Haus mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt gewesen. Er hatte Tapete von den Wänden gekratzt, die Böden erneuert, mit Caitlyn zusammen jahrzehntealte Farbschichten von den antiken Eichenschränken gekratzt. Ihr hatte es beinahe das Herz gebrochen, dieses Haus zurückzulassen, aber nachdem Dad …
Jessalyn war es aus anderen Gründen schwergefallen, Evergreen zu verlassen: Sie gab ihre Familie und ihren Freundeskreis auf, um verwitwet als alleinerziehende Mutter neu anzufangen, und das tausendfünfhundert Kilometer von dem einzigen Zuhause entfernt, das sie je gekannt hatte. Das Opfer, das Caitlyns Mutter gebracht hatte, grub
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