Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
sich als tiefer Graben zwischen sie und ihre Tochter. Vergeblich hatte Caitlyn versucht, diese Kluft zu überwinden, und es Jahre später schließlich aufgegeben. Niemand konnte Jessalyn glücklich machen, schon gar nicht, nachdem Dad nicht mehr da war.
Zum Glück hatte Onkel Jimmy gesagt, er würde sich um das alte Haus kümmern. Falls Caitlyn jemals bereit sein sollte, sich den Schatten der Vergangenheit zu stellen und über Dielen zu schreiten, die mit dem Blut ihres Vaters getränkt waren.
Vielleicht konnte Onkel Jimmy ihr jetzt helfen. In jenem Jahr, nachdem sie und ihre Mutter aus Evergreen weggezogen waren, hatte er die Bauleitung für das vom Indianerstamm betriebene Kasino übernommen und dort, wo vorher im Randgebiet des Reservats nur ein weißer Fleck auf der Landkarte existiert hatte, das
VistaView Resort
zum Leben erweckt. Als Leiter des Kasinos wusste er über alles Bescheid, was in Evergreen – eigentlich in ganz Balsam County – vor sich ging, und das galt auch für den größten Teil der Nachbarstadt Cherokee.
Gerade als Caitlyn Onkel Jimmy anrufen wollte, stieß sie am Boden von Hales Schachtel auf ein kleines Adressbüchlein. Beim Durchblättern stieß sie auf Lenas Durhamer Adresse, ihre Telefonnummer sowie – Volltreffer – auf den Namen und die Handynummer von Lenas Mitbewohnerin.
Caitlyn aß auf, orderte noch ein Stück Kirschauflauf zum Nachtisch, dann rief sie bei der Mitbewohnerin an. »Melissa Andersen? Hier spricht Caitlyn Tierney. Ich bin eine Freundin von Lenas Familie. Ich müsste dringend Lena erreichen.«
»Geht es um ihren Vater?« Melissa klang als sei sie Mitte zwanzig und dem Akzent nach stammte sie definitiv aus South Carolina. »Vor ein paar Tagen hat ein Gefängnispfarrer für sie angerufen und ihr ausrichten lassen, dass es ihm sehr schlecht geht.«
Caitlyn zögerte. Bei einem Todesfall sollten eigentlich immer zuerst die Angehörigen informiert werden, aber das wäre in diesem Fall Lena … »Ich muss wirklich dringend mit Lena sprechen. Wissen Sie, wo sie ist?«
»Sie wollte in eine Kleinstadt in den Bergen fahren, in der Nähe von Cherokee. Evergreen. Da kommt ihre Familie her. Moment, sagten Sie Caitlyn Tierney?«
»Ja.«
»Oh mein Gott. Ich weiß, wer Sie sind. Lena hat hier ein Foto von Ihnen und Ihrer Schwester auf der Kommode stehen. Sie beide waren ja so niedlich! Auf dem Bild sind Sie von oben bis unten mit Matschepampe beschmiert, nur die Augen sind noch zu sehen – und dann noch Ihr in alle Richtungen abstehendes rotes Haar.«
Caitlyn kannte das Bild nur zu gut. Es war eines der Lieblingsfotos ihres Vaters gewesen. Es war Jahrzehnte her, dass sie es das letzte Mal angeschaut hatte, bevor ihre Mutter alles weggepackt und sie nach Pennsylvania verfrachtet hatte. »Das bin ich. Wann ist Lena denn losgefahren?«
»Montagabend.«
Sie war also schon länger verschwunden, als Hale vermutet hatte. »Haben Sie seitdem etwas von ihr gehört? Wissen Sie, wo Lena in Evergreen unterkommen wollte?«
»Nein, tut mir leid. Sie sagte, sie würde nur ein zwei Tage fort sein, aber manchmal vergisst sie einfach die Zeit. Einmal, als sie für das Innocence Project gearbeitet hat, da …«
»Ist sie deswegen unterwegs? Rollt sie den alten Fall ihres Vaters wieder auf?« Vielleicht konnte Caitlyn Lena aufspüren, indem sie alle Leute überprüfte, die damals an Hales Gerichtsverhandlung beteiligt gewesen waren.
»Oh, nein, damit ist sie durch. Jahrelang hat sie sich damit beschäftigt, aber irgendwann hat sie doch erkennen müssen, dass das alles nur in eine Sackgasse führt. Ich glaube, sie war echt wütend auf ihren Vater – kann man ihr ja auch nicht verübeln, nachdem sie, ihre Mutter und ihre Schwester so lange an ihn geglaubt haben – und schließlich stellt sich raus, dass er diesen Mann tatsächlich umgebracht hat.« Sie seufzte schwer. »Die Arme. Sie und ihr Vater hatten einen Riesenstreit deswegen. Ich vermute, jetzt will sie auf diese Weise ein wenig Abstand gewinnen, wenn Sie verstehen, was ich meine?«
»Also haben Sie keine Ahnung, was Lena in Evergreen sucht?«
»Nein, tut mir leid. Ihre Familie besitzt dort immer noch ein Haus, vielleicht ist sie da hingefahren?
»Hatte sie zu irgendjemandem in Evergreen Kontakt?«
»Tut mir leid, das weiß ich auch nicht. Aber wenn Sie sie erreichen, richten Sie ihr bitte aus, dass hier Post auf sie wartet.«
Post. »Irgendwas dabei, das mir helfen könnte, sie zu finden?«
»Nur Rechnungen – oh, und ein
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