Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Dann rückte ein allein stehendes zweistöckiges Gebäude in ihr Blickfeld, hinter dem sich eine Freifläche mit einem Fabrikgebäude befand. Als sie näher kam, erkannte sie, dass zwei weitere einstöckige, langgestreckte Gebäude verloren auf dem Areal herumstanden. Dann entdeckte sie ein Hinweisschild: KZ-Grab- und Gedenkstätte Flossenbürg. Sie fuhr auf das zweistöckige, verlassen wirkende Gebäude zu und parkte. Sie ging darum herum und dann auf die Freifläche zu, die sich dahinter erstreckte. Linker Hand stieg das Gelände leicht an. Ein- und Zweifamilienhäuser jüngeren Datums standen dort. Dahinter begann schon der Wald. Sie blieb stehen und schaute ratlos in alle Himmelsrichtungen. Wenn sich hier ein Lager befunden hatte, so war der Ort mit den Jahren offenbar baulich darüber hinweggewachsen. Sie ging auf das große Gebäude zu, das die Freifläche dominierte. Es war eine Industriehalle. »Alcatel« stand auf einem Schild. Offenbar war die Fabrik nicht mehr im Dienst. Kabelrollen lagen herum. Sie spazierte daran vorbei und durchquerte eine kleine Gartenanlage bis zu einer Kapelle, die am oberen Rand einer Senke errichtet worden war. Tal des Todes las sie auf einem Schild. Ein Dutzend Grabplatten waren am Grund der Senke zu sehen. Ein pyramidenartiger Hügel ragte in der Mitte der Anlage auf. Am Ende des Tals wuchs ein Wachturm in den Himmel. War das Lager hier gewesen?, fragte sie sich. In dieser Senke den Blicken entzogen?
Langsam stieg sie die Treppe hinab, die zum Fuß der Senke führte. Die großen Grabplatten zu beiden Seiten des Weges enthielten ähnlich lautende Inschriften: zum Andenken an Tausende Polen, Litauer, Franzosen, Italiener, Belgier, Russen und Opfer weiterer Nationalitäten, die in Flossenbürg ermordet worden waren. Sie spazierte langsam an den Steinen vorbei auf den pyramidenförmigen Hügel zu, der in der Mitte des Tals angelegt worden war. Eine Gedenktafel klärte darüber auf, dass hier die Asche Tausender KZ-Opfer bestattet worden sei.
Sie stand einige Minuten reglos da und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Auf der Granitstele in der Ortsmitte war von etwa hundert Toten die Rede gewesen. Aber hier wurde Tausender gedacht. Ein Massenvernichtungslager! Ein paar Kilometer Luftlinie von dem Ort entfernt, wo sie mit ihren Eltern zweimal die Sommerferien verbracht hatte. Und sie hatte noch nie von diesem Ort gehört!
Sie ging weiter bis zum Ende der Senke, wo eine Treppe zu dem Wachturm hinaufführte, den sie von der Kapelle aus bereits gesehen hatte. Ein hoher Drahtzaun mit Porzellanfassungen für elektrische Drähte stand noch da. Nach ein paar Schritten auf der Treppe stellte sie fest, dass unter dem Wachturm ein bunkerartiger Bau in den Hang hineingebaut worden war. Die Eingangstür stand offen, und sie ging hinein. Ein gemauerter Verbrennungsofen stand dort. Sie trat in den nächsten Raum und fand sich vor einem Leichentisch aus Stein wieder. An den gefliesten Wänden hingen Erinnerungstafeln. An einer davon blieb ihr Blick hängen:
Per la libertà
Eugenio Pertini
Patriota Italiano
Nato a Stelle Ligure il 19. 10. 1894
Qui trucidato
Il 25 Aprile 1945
Dies musste die Tafel sein, die der italienische Staatspräsident 1979 für seinen ermordeten Bruder hatte anbringen lassen, was in der Presse für solchen Aufruhr gesorgt hatte. Anja stand minutenlang stumm da. Wie viele Häftlinge waren hier geendet, auf diesem Tisch entkleidet und im Ofen nebenan verbrannt worden? Unwillkürlich befühlte sie erneut die Dose in ihrem Rucksack. War das auch hier gemacht worden? Die letzte Handlung. Hatte neben dem Tisch ein Eimer dafür bereitgestanden?
Sie kehrte wieder in den ersten Raum zurück, betrachtete noch einmal lange die Ladeluken des Verbrennungsofens. Dann ging sie hinaus und die Treppe hinauf, die am Wachturm vorbei zum Hauptplatz zurückführte. Sie passierte eine umzäunte, in den Boden gemauerte Rampe, eine makabre Rutschbahn, wie sie auf einer Tafel lesen konnte, auf der die Körper in das Krematorium hinabgeschlittert waren. Sie ließ ihren Blick über die Umgebung dieses infernalischen Loches in der Erde schweifen. Aber da war nichts außer der gleichgültigen, schweigenden Natur. Bäume. Gepflegte Rasenflächen. Waldesstille.
Sie ging zum Hauptplatz vor der Kabelfabrik zurück und betrachtete ratlos die Neubausiedlung direkt daneben. Zwischen den Wohnhäusern hängte jemand Wäsche auf. Auf der Straße, die aus der Siedlung hinausführte, lief ein älterer
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