Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
größer, weitläufiger gewesen. Die Armseligkeit, die allgemeine Schäbigkeit der Einrichtung erstaunte sie. Hatten sie an dieser Tischplatte aus verkratztem Resopal gesessen, aus diesen milchig gewordenen Gläsern getrunken? Oder war der Zustand des Hauses damals besser gewesen? Die Wand neben dem Kühlschrank hatte es früher nicht gegeben. Vermietete die Familie hier überhaupt noch Zimmer? Wahrscheinlich nur in dem Anbau, den sie draußen gesehen hatte.
Sie schluckte nervös. An diesem Tisch hatte sie vor vielen Jahren mit ihren Eltern gefrühstückt.
Das Geräusch einer Klospülung im Obergeschoss setzte ein lautes Glucksen in der Spüle neben ihr in Gang. Anja trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Dann hörte sie Schritte. Traudel Gollas kam die Treppe herunter, glücklicherweise ohne das Kind, das sie wohl mit irgendeiner Beschäftigung im Obergeschoss zurückgelassen hatte.
»Gleich kommt ein Krankenwagen aus Eschlkam«, sagte Anja und wich bereits in den Flur vor ihr zurück. »Schicken Sie die Leute bitte sofort hoch zur Wildwiese im Haingries. Sie kennen doch den Haingries, oder?«
»Den Haingries«, erwiderte die Frau erregt. »Natürlich kenne ich den Haingries. Der gehört uns schließlich. Aber was ist denn nur passiert?«
»Ein Unfall«, sagte Anja nach einer kurzen Pause.
»Das haben Sie ja eben schon gesagt«, stieß sie ungeduldig hervor. »Aber was denn für ein Unfall? Und wer sind Sie überhaupt?«
»Ich sagte doch schon, ich komme vom Forstamt Waldmünchen. Wir kartieren hier. Bitte schicken Sie die Rettungsleute sofort hinauf. Ich muss zurück. Mein Kollege wartet dort oben auf mich. Er ist allein, ich muss zu ihm.«
»Aber ich kann hier nicht weg!«, rief sie aufgebracht. »Ich kann doch das Kind nicht allein lassen …«
»Sie sollen ja gar nicht hier weg«, rief Anja schroff und war schon halb aus der Tür. »Sie sollen warten, bis die Sanitäter da sind, und sie dann hochschicken. Ich muss zurück. Die werden gleich hier sein.«
Anja stürzte davon. Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, dass Traudel Gollas auf der Tastatur eines Handys herumdrückte. Anja lief, so schnell sie konnte, zum Waldweg zurück, der sie zur Wildwiese bringen würde. Sie musste schlucken. Was hätte sie anderes tun sollen? Der Frau eröffnen, dass ihr Bruder dort oben tot im Wald hing?
10
S chon bevor sie die Wiese erreichte, hörte sie Stimmen. Sie hielt inne und lauschte. In weiter Ferne war Sirenengeheul zu hören. Als sie Augenblicke später auf die Wiese trat, sah sie Obermüller mit zwei Männern am Hochsitz stehen. Obermüller rauchte. Die beiden Männer hatten ihr den Rücken zugekehrt und schienen den Toten zu betrachten. Sie standen kaum eine Armeslänge von ihm entfernt. Obermüller bemerkte Anja, sagte etwas, und die beiden Männer drehten sich zu ihr um.
Franz Gollas! Anja erkannte ihn sofort wieder. Das gutmütige, weiche Gesicht, leicht rötlich und frisch wie von einem Buben, ohne nennenswerten Bartwuchs, ein wenig fülliger geworden mit den Jahren, aber noch immer irgendwie alterslos. Nur seine Augen nicht. Die waren schwermütig und zugleich unsicher, vor allem jetzt, da sie nervös in ihre Richtung blickten, jedoch ohne jegliches Anzeichen, dass er sie wiedererkannte. Wie auch, dachte sie und fixierte den jüngeren Mann, der neben Franz Gollas stand und sie aus eng zusammengekniffenen Augen misstrauisch anschaute. Natürlich vermochte Franz Gollas zwischen ihr und einem achtjährigen Mädchen, das er vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen hatte, keine Ähnlichkeit festzustellen. Ihr ging es mit dem jungen Mann an seiner Seite ja genauso. Zweifellos war er einer der beiden Gollas-Buben, mit denen sie früher gespielt hatte. Die Familienähnlichkeit war offensichtlich. Aber welcher war es? Lukas? Oder Rupert? Oder hatte es inzwischen sogar noch weitere gegeben? Das Sirenengeheul war jetzt deutlich zu hören. Anja legte die letzten Meter zu den drei stumm wartenden Männern zurück und stellte sich zu ihnen.
»Die Rettungskräfte werden gleich hier sein«, sagte sie. »Ich schlage vor, wir nehmen etwas Abstand zu dem Toten ein. Die Polizei wird die Unglücksstelle untersuchen wollen.«
»Rettungskräfte«, stieß der jüngere Mann abfällig hervor. »Viel zu retten gibt’s hier wohl nicht. Was machen Sie überhaupt hier?«
Anja schaute zu Obermüller. Der zuckte nur mit den Schultern.
»Grimm«, erwiderte Anja kurz angebunden. »Forstamt Waldmünchen. Und wer sind Sie
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