Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
dieser Mord und Selbstmord geschehen ist, vor zwanzig Jahren mein Vater verschwand. Spurlos. Ehrlich gesagt, Herr Dallmann, angesichts der Art und Weise, wie Sie diese Befragungen durchführen, wundert es mich absolut nicht, dass hier zwanzig Jahre lang ergebnislos ermittelt wurde.«
Dallmann lächelte nur und ließ sich von Anjas nicht gerade harmloser Unterstellung in keiner Weise aus der Ruhe bringen. »Ja, Frau Grimm, genau das habe ich befürchtet. Sie bestätigen uns das, was wir vermutet haben.«
Anja schaute von einem zum anderen. Gerlach wich ihrem Blick aus. Uns? Was meinte der Mann denn jetzt damit? Was zum Teufel hatte er befürchtet?
»Natürlich macht Ihnen niemand Vorwürfe«, setzte er an. »Aber es ist leider sehr wahrscheinlich, dass Sie durch Ihre wiederholten Besuche im Haingries bei Xaver Leybach eine Panikreaktion ausgelöst haben, die sein Verhalten erklären könnte.«
Er griff nach einem der beiden Aktenordner, öffnete ihn und schlug ihn an einer Stelle auf, wo eine gelbe Markierung zwischen den Seiten steckte.
»Hier.« Er breitete einen Stapel zusammengehefteter Papierstöße vor sich aus. »Schauen Sie. Drei, nein vier ausführliche Befragungen. Die erste fand, wie man hier sehen kann, am 26. September 1979 statt. Xaver Leybach wurde fast drei Stunden lang verhört. Ich darf Ihnen diese Protokolle nicht zeigen. Aber ich habe sie heute Morgen alle sorgfältig durchgelesen.« Er nahm sie einzeln zur Hand und sortierte sie von links nach rechts. »24. Oktober 1979. Dann wieder im März 1980. Niemand wurde im Zusammenhang mit dem Verschwinden Ihres Vaters derart durch die Mangel gedreht wie Xaver Leybach. Denn dass der Verdacht irgendwann auf ihn fallen würde, lag ja nahe.«
»So? Warum?«
»Weil das Volk einen Sündenbock braucht. Das Verschwinden Ihres Vaters war mysteriös. Alle vernünftigen Erklärungen waren irgendwann aufgebraucht. Er war glücklich verheiratet und hatte eine kleine Tochter. Er war nicht verschuldet, hatte keine Beziehung zu einer anderen Frau, wurde weder privat bedroht noch vom Gesetz verfolgt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich irgendwohin abgesetzt hatte, war nach menschlichem Ermessen also äußerst gering. In einem Radius von zwei Tagesmärschen von Faunried wurde intensiv nach ihm gesucht und absolut nichts gefunden. Sogar die abseitige Theorie, dass er entführt und vielleicht aufgrund einer Verwechslung auf die andere Seite des damals noch existierenden Eisernen Vorhangs verschleppt wurde, ist in Erwägung gezogen und überprüft worden. Bis heute ohne Ergebnis. Damit bleiben nur zwei Hypothesen: Ihr Vater ist bei einer seiner Wanderungen so unglücklich gestürzt, dass er bis heute unauffindbar geblieben ist. Oder er fiel einem Verbrechen zum Opfer. Aber wer hätte Ihrem Vater etwas antun sollen? Und warum? Falls er einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, kam wohl nur ein Wahnsinniger dafür in Frage.«
Er machte eine Pause, denn er schien immerhin zu bemerken, wie diese Rekonstruktion der Ereignisse Anja mitnahm. Sie saß beklommen auf ihrem Stuhl und kaute an ihrem rechten Daumennagel.
»Ich war damals nur ein paar Jahre älter als Sie«, fuhr Dallmann schließlich fort, »aber ich habe natürlich von der Sache gehört wie alle hier in der Gegend. Bei der Lektüre der Akten heute Morgen ist mir auch wieder eingefallen, wie über Xaver Leybach in der Presse berichtet wurde. Heute kann ich Ihnen sagen: Es grenzt fast ein Wunder, dass es seiner Familie gelungen ist, die Ermittlungen gegen ihn irgendwann zu stoppen, denn an Vorverurteilungen gab es keinen Mangel. Aber Tatsache ist leider auch, dass abgesehen von dem Umstand, dass er geistig ein wenig zurückgeblieben war, es nicht das geringste Indiz gab, dass er mit dem Verschwinden Ihres Vaters irgendetwas zu tun gehabt hatte. Etwas anderes hingegen dürfte als sicher gelten: Die Verhöre und Verdächtigungen haben ihn damals so traumatisiert, dass sein Zustand im Frühjahr 1980 so bedenklich war, dass weitere Befragungen ärztlicherseits untersagt wurden. Und wissen Sie, warum? Wegen Suizidgefahr.«
Anja starrte auf die vergilbten Papiere auf dem Tisch. Sie spürte ein Rauschen in den Ohren. Sie dachte an den sanften, im Grunde liebenswerten Sonderling Xaver Leybach, den sie als Kind gekannt hatte, und an den unheimlichen Waldschrat, der ihr vorgestern und gestern begegnet war. Sie fühlte sich schlecht. Ihre Empörung von eben brach still und leise in ihr zusammen.
»Das … das wusste ich
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