Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Zwanzig Jahre. Ohne jegliches Ergebnis. Sie verkniff sich eine Bemerkung, aber sie spürte, dass sie auf misstrauische Distanz zu diesem Polizisten ging.
»Sie sind also ganz zufällig wieder hier in Waldmünchen gelandet?«, fragte der Mann weiter.
»Ja«, log sie und bereute es sogleich. Die mussten ja nur bei Grossreither nachfragen, um zu erfahren, dass die Initiative von ihr ausgegangen war. Aber ging es diesen Polizisten etwas an, warum sie wirklich hier war? Sie hatte absolut keine Lust, ihm von ihren Asthmaanfällen und Herrn Venner-Brock zu erzählen. Jetzt war es zu spät. Sie würde bei ihrer ursprünglichen Version bleiben und konnte nur hoffen, dass sie nicht überprüft werden würde. Und wenn, dann konnte sie sich immer noch erklären. Als ob sie selbst so genau wüsste, warum sie hier war. Aber was geschah hier eigentlich? Betrafen diese Ermittlungen nicht Xaver Leybachs Amoklauf?
»Und es war auch Zufall, dass ausgerechnet Sie in dem Gebiet kartiert haben, wo vor zwanzig Jahren Ihr Vater verschwunden ist?«
»Ja«, sagte Anja erneut so ruhig sie konnte. Wie naiv sie doch war. Warum hatte sie gestern nicht den Mund gehalten? Dieser Mann war nicht hier, um Fakten zu sammeln. Leuten seines Schlages ging es vermutlich in erster Linie darum, seine Dienststelle vor einer möglichen Bloßstellung zu bewahren. Oder warum sonst stellte er so hirnverbrannte Fragen? Gab es nicht andere Dinge, die ihn erheblich mehr interessieren sollten? Sie sah erneut zu Gerlach hin. Es kam ihr so vor, als blicke der Mann ein wenig missmutig vor sich hin. Aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. In jedem Fall schwieg er. »Wie ich Ihrem Kollegen gestern schon erklärt habe, ist mein ursprüngliches Einsatzgebiet am letzten Freitag durch einen Sturm so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, dass die Einsatzpläne kurzfristig geändert werden mussten. Ich habe erst in letzter Minute davon erfahren. Amtsleiter Grossreither entscheidet, welche Teams wo kartieren. Es hätte jeden treffen können.«
Dallmann nickte und notierte sich etwas. Merkte der Mann nicht, wie gefühllos das klang? Vielleicht war er ja auch nur dumm? Oder welches Ziel verfolgte er mit diesen Fragen, die doch für die Vorfälle von gestern gar nicht von Belang waren?
»Sollten wir uns nicht lieber mit den gestrigen Ereignissen beschäftigen?«, ließ sich Gerlach jetzt vernehmen. »Ich bin sicher, Frau Grimm wird uns …«
»Dazu komme ich ja jetzt«, schnitt Dallmann ihm das Wort ab. Gerlach wurde ein wenig steif. Er lächelte angespannt, aber es war jetzt offensichtlich, dass er sich über Dallmanns Fragen wunderte. Sofern es überhaupt Fragen waren.
»Aber Sie haben vielleicht recht, Herr Gerlach«, fuhr Dallmann in versöhnlicherem Ton fort. »Vielleicht informieren Sie Frau Grimm zunächst einmal darüber, was wir bisher über den Tatablauf wissen, denn das ist für unser Gespräch nicht ganz unerheblich. Bitte.«
Diese plötzliche Aufforderung traf Gerlach offenbar unvorbereitet. Er warf Dallmann einen nicht gerade freundlichen Blick zu, räusperte sich dann und berichtete knapp. Anja wurde immer unbehaglicher zumute. War das Ganze ein eingeübtes Verfahren, um sie einzuschüchtern oder zu verunsichern? Aber wozu? Sie hatte doch weiß Gott nichts getan. Oder doch? Hatte ihre Äußerung von gestern diese undurchschaubare Reaktion bewirkt?
»Soweit wir es rekonstruieren konnten«, hörte sie Gerlachs Stimme wie aus weiter Ferne, »ist Xaver Leybach nach dem Zusammentreffen mit Ihnen auf den Leybachhof zurückgekehrt und hat in einem spontanen Gewaltakt seine bettlägerige Mutter in den Stall gebracht und dort mit einem Spaten erschlagen. Laut vorläufiger Todeszeitbestimmung ist Anna Leybach zwischen sechzehn und siebzehn Uhr vom Leben zum Tod gebracht worden. Genauere Informationen stehen noch aus, aber die Lebersondendaten, die dieser Schätzung zugrunde liegen, sind recht zuverlässig. Nach dieser Tat hat sich Xaver Leybach zum Haingries begeben und sich am dortigen Hochsitz erhängt. Die alternative Vermutung, dass der Mord an Anna Leybach bereits erfolgt war, als er Sie auf der Wildwiese bedroht hat, hat sich durch die bisherigen Ermittlungsergebnisse als nicht haltbar erwiesen. Hinweise auf das Einwirken Dritter auf das Tatgeschehen gibt es bisher ebenfalls nicht. Es bleibt also vorerst beim eben beschriebenen Tatgeschehen.«
Kurzzeitig wurde es still im Raum. Gerlach klappte seinen Notizblock wieder zu. Dallmann schrieb schon
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