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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Fotos ablenkte. Auch Rupert schien zunehmend gereizt. Immer öfter schauten sie beide im gleichen Moment auf und tauschten Blicke. »Tu doch endlich etwas«, sagte sie ihrem ältesten Sohn schließlich.
    Aber Rupert zuckte nur ratlos mit den Schultern. »Was denn?«
    Das Gebell wurde unerträglich.
    Sie waren am frühen Mittwochnachmittag heraufgekommen. Rupert war vorausgegangen, hatte dem wütend kläffenden Hund sein Fressen hingeworfen und das Haupthaus des Hofes dann durch den Hintereingang betreten. Waltraud Gollas war kurz darauf erschienen, ausgerüstet mit den größten schwarzen Plastiksäcken, die sie hatte finden können und die nun, von alter Wäsche und Kleidung überquellend, überall im Haus herumstanden und sich noch immer vermehrten. Rupert hatte im Wohnzimmer begonnen, sie selbst mit dem Krankenlager ihrer Mutter im ersten Stock. Sie hatte die alten, durchgewetzten Laken von der Matratze gerissen und samt Decke und Kopfkissen in Abfalltüten gestopft. Die zahllosen halbverbrauchten Fläschchen und Tablettenpäckchen, die sich in den letzten Jahren und Monaten um Anna Leybachs siechen Körper angesammelt hatten, füllten vier Schuhkartons, und Waltraud fragte sich, ob sie das ganze Zeug im Container für Altbatterien auf dem Aldi-Parkplatz von Waldmünchen entsorgen konnte. Vor allem diese Frage beschäftigte sie, während sie mit zusammengepressten Lippen Schublade um Schublade ausleerte und deren Inhalt weitgehend wahllos in Tüten verfrachtete. Stand auf dem Aldi-Parkplatz nicht auch ein Altkleidercontainer? Konnte man dort Schuhe hineinwerfen? Und sollte sie das Zeug wegschmeißen, bevor ihre Schicht an der Aldi-Kasse begann? Oder am Wochenende, wenn sich dort bestimmt niemand aufhielt? Aber extra nach Waldmünchen fahren? Das kostete wieder Sprit.
    Rupert trat herein und hielt ihr stumm ein Fotoalbum hin. Waltraud nahm es entgegen und wischte sich zugleich mit dem linken Handrücken den Schweiß von der Stirn. Schwarzweißfotos mit gezackten Rändern klebten auf durch Pergamentpapier getrennten Seiten. Waltraud blätterte nur kurz darin und stopfte es dann kommentarlos in den Müllsack. Rupert sagte nichts. Der Hund bellte ununterbrochen.
    »Was ist mit den Möbeln?«, wollte sie von ihm wissen. »Und überhaupt, was soll mit dem Haus passieren?«
    Rupert sah sie von unten herauf an. »Abbrennen«, sagte er dann in einem Ton, der ironisch klang, aber dennoch ernst genommen werden wollte. Sie schaute zu ihm hin. Wie immer fühlte sie sich zugleich irritiert und auf merkwürdige Weise sicher in seiner Gegenwart. Wie war es möglich, dass sie derart verschiedene Söhne hatte? Der grobe, verschlossene Rupert schlug in jeder Hinsicht den Gollas nach, einer Familie, die seit Jahrhunderten in Bayern siedelte. Ganz anders Lukas, der das Ebenbild seiner Großmutter war mit ihren gleichmäßigen, schönen, schon leicht ins Slawische spielenden Zügen. Auch wenn er es nicht wollte, so war doch eine stille Überheblichkeit in ihm, etwas Baltisches, Ostpreußisches, wie sie es in Ermangelung einer besseren Bezeichnung nannte, denn dort stammte ihre Mutter schließlich her. Aber warum sollten Lukas und Rupert sich ähnlich sein? Hatte sie auch nur das Geringste mit ihrem Bruder gemeinsam gehabt? Absolut nichts.
    Sie musterte Rupert, der angewidert das unsägliche Durcheinander betrachtete, das inzwischen die Flure und Treppen erfüllte. Auch ihr sank der Mut. Es würde Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis das Haus so weit leer geräumt war, dass man irgendetwas damit anfangen konnte. Und was überhaupt? Verkaufen stand nicht zur Debatte. Sie konnten keine Fremden auf ihrem Grundbesitz brauchen. Lukas hatte Pläne für den Wald. Aber diesen heruntergekommenen Hof brauchte niemand. Wer aus der Familie würde jemals hier wohnen wollen? Und vermieten? In diesem Zustand? Zigeuner könnte man hier bestenfalls ansiedeln. Anzünden wäre vielleicht wirklich die beste Lösung.
    Rupert verließ das Zimmer wieder. Sie schaute ihm nach. Dann setzte sie langsam den Plastiksack ab, zog das Album wieder aus dem Abfall hervor, setzte sich auf das abgezogene Bett ihrer Mutter und blätterte darin. Jetzt, da ihr Sohn außer Sicht war, hatte sie das Gefühl, sich dieser Schwäche hingeben zu können. Ihre Familie! Wie sie sie gehasst hatte. Und dieses verfluchte Haus! Der Alptraum, der ihre Kindheit gewesen war! Seit sie ihren Eltern entkommen war, hatte sie an der Mauer gebaut, die sie und ihre Kinder vor diesen Menschen

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