Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
spätestens jetzt endgültig erledigt. Xaver ist tot. Anna ist tot. Alois ist weiß Gott wo, vermutlich auch längst gestorben. Und die Gebeine des Vaters dieser jungen Frau liegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in irgendeiner verborgenen Felsnische, in die er vor zwanzig Jahren beim Wandern hineingestürzt ist. Mache dir mal keine Gedanken um mich. Und was diese junge Frau betrifft, sei nachsichtig und geh verständnisvoll mit ihr um. Sie kann ja nicht ganz normal sein, wenn sie ausgerechnet in dieser Gegend, wo ihr Vater verunglückt ist, ein Praktikum macht. Nein, das ist nicht normal.«
Konrad Dallmann wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Aber zumindest in diesem Punkt stimmte er mit seinem Vater überein.
14
S ie hatte erwartet, Gerlach in dem Zimmer anzutreffen, in das sie geführt wurde. Aber als sie den Raum betrat, saß dort noch ein zweiter Mann. Er trug Zivil und wirkte jünger als der Polizeibeamte, der sie gestern befragt hatte. Er erhob sich und reichte ihr die Hand.
»Frau Grimm. Danke, dass Sie hergekommen sind. Kriminalhauptmeister Gerlach kennen Sie ja schon. Ich bin Hauptkommissar Dallmann. Haben Sie ohne Probleme hergefunden?«
»Ja. Danke.«
»Es tut mir leid, dass wir Sie belästigen müssen.«
Gerlach nickte ihr zu, sagte jedoch nichts.
»Kollege Gerlach hat mir sehr ausführlich über die gestrigen Vorfälle berichtet. Ich bin also informiert und will Ihnen zunächst sagen, wie leid mir das alles tut. Ich bin fassungslos und schockiert über diese fatale Verkettung von Unglücksfällen. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wasser? Kaffee?«
»Wenn Sie einen Tee hätten?«
»Sicher. Lassen wir sofort kommen.« Dallmann nickte Gerlach zu.
Der erhob sich sogleich und verließ den Raum.
»Haben Sie sich ein wenig vom dem gestrigen Schreck erholt?«, fragte Dallmann.
»Ja. Es geht. Danke.« Ihr Blick fiel auf zwei Ordner, die neben Dallmann auf dem Tisch lagen.
Dem Kommissar war das nicht entgangen: »Das sind die Ermittlungsakten von damals. Ich habe sie mir natürlich gleich angeschaut, nachdem Kollege Gerlach mir von Ihrem Verdacht berichtet hat.«
Anja musterte die dicken Ordner argwöhnisch. Dallmann hatte ihren Blick offenbar bereits interpretiert, denn er trug sogleich eine Rechtfertigung vor: »Was ich hier habe, deckt nur die ersten sechs Monate nach dem Verschwinden Ihres Vaters ab«, erklärte er beflissen. »Also den Zeitraum der intensivsten Ermittlungen. Bei ungelösten Fällen gibt es natürlich immer wieder Nachermittlungen und Überprüfungen. Aber die sind alle ergebnislos verlaufen.«
»Hat diese Akten jemals jemand aus meiner Familie zu Gesicht bekommen?«
»Nein, gewiss nicht«, verneinte Dallmann mit Nachdruck. »Das heißt, Ihre Mutter wurde bestimmt informiert. Aber Einsicht in Polizeiakten erhalten üblicherweise nur Anwälte. Hatte Ihre Mutter damals einen Anwalt eingeschaltet?«
Anja hatte keine Ahnung. Bevor sie antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Gerlach kam mit einem kleinen Tablett zurück. Er stellte es vor ihr ab. Dann ging er um den Schreibtisch herum und setzte sich wieder neben seinen Kollegen. Anja ließ ein Stück Würfelzucker in ihre Teetasse gleiten und schaute dann wieder zu Dallmann hin, der sie erwartungsvoll anblickte. Er war hager und trug einen Schnurrbart, der ihm, wie sie fand, nicht gut stand. Sie bemerkte seinen Ehering. Sein Hemd war gebügelt. Er war mit Sicherheit jünger als Gerlach, aber offenbar in der Hierarchie über ihm. Gerlach trug keinen Ehering, und wer immer sein Uniformhemd bügelte, tat dies nicht besonders sorgfältig.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich denke aber eher nicht. Wozu auch?«
Die beiden Männer schwiegen einen Moment. Dann griff Dallmann den Gesprächsfaden wieder auf. »Frau Grimm, der Verdacht, den Sie gestern geäußert haben, ist sehr schwerwiegend. Hegen Sie diese Vermutung schon länger? Sind Sie deshalb nach Faunried zurückgekommen?«
»Was?«, rief Anja irritiert aus. »Nein«, sagte sie dann kopfschüttelnd, »überhaupt nicht.« Die Frage verwunderte sie. Sie gab dem Gespräch eine merkwürdige Richtung. »Was wollen Sie damit sagen?«
Dallmann hob beschwichtigend die Hände. »Gar nichts, Frau Grimm. Wir wollen zunächst nur die Fakten zusammentragen.«
Gerlach sah zu Dallmann hin, sagte aber nichts.
Fakten zusammentragen, dachte Anja und schaute erneut auf den Aktenordner. Hatten sie dafür nicht ausreichend Zeit gehabt?
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