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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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schützen sollte. Vor ihrem entsetzlichen Vater und ihrer nicht minder hartherzigen, kalten Mutter.
    Ihre Hände zitterten, als sie die alten Fotos sah. Frühjahr 1948. Alois Leybach im schwarzen Anzug, Anna Leybach daneben mit ihr als Zweijähriger auf dem Arm. Der zehnjährige Xaver, wie immer geduckt neben der ernst in die Kamera blickenden Mutter, zu der er stets zurückkriechen musste wie jeder geprügelte Hund. So hielt es die Natur nun mal. Der Anblick des unendlich traurig blickenden Jungen versetzte ihr einen Stich. Diese arme, arme Kreatur, dachte sie. Sie hatte es schon schwer genug gehabt. Aber er? Wie oft hatte Alois Leybach ihn halb totgeschlagen. Mit welchem nie endenden Hass hatte er diesen Jungen verfolgt, weil er kein rechter Mann war, kein vitaler, blonder, blauäugiger Recke, sondern ein hilfsbedürftiges, für diese rauhe Welt viel zu zartes, geistig schwerfälliges Wesen, dessen Mutter sich nicht weniger abgrundtief dafür schämte, so etwas geboren zu haben, als Alois für seine Vaterschaft, die er auch noch regelmäßig leugnete, wenn er etwas getrunken hatte.
    Freilich war das Mitleid mit ihrem Bruder mit den Jahren in resignierte Gleichgültigkeit und irgendwann in Abneigung umgeschlagen, vor allem, als der Erwachsene alle Attribute des Kindlichen verloren hatte und kaum etwas Liebens- oder Bemitleidenswertes an ihm übrig geblieben war. Er war ein Kauz gewesen. Es war nicht seine Schuld. Er konnte nichts dafür. Aber sie auch nicht. Interessierte sich die Welt vielleicht für ein Woher und Warum? Kein Hahn krähte danach. Immerhin hatte sie ihn geduldet. Er war nicht willkommen, nein, ebenso wenig wie ihre verhassten Eltern, die immerhin klug genug gewesen waren, dem Gollashof fernzubleiben. Aber sie hatte Xaver nicht weggeschickt, wenn er zu ihr kam. Und bis vor wenigen Jahren war er auch gekommen. Bis er es dann irgendwann unterließ. Etwas in ihrer Brust zog sich zusammen. War ihr vielleicht eine Schuld zu geben an diesem entsetzlichen Ende? Hätte sie etwas tun können?
    Zwei Schüsse krachten kurz hintereinander und rissen sie brutal aus ihren Grübeleien. Vor Schreck fiel ihr das Fotoalbum aus den Händen, und sie stürzte zum Fenster. Kurz bevor sie es erreichte, krachte ein dritter Schuss. Rupert stand im Hof, den Lauf noch auf das Genick des Hundes gerichtet. Das Tier lag blutüberströmt vor ihm im Dreck. Es zuckte noch. Nein. Es zitterte. Rupert wartete noch einige Sekunden, bis das Zittern aufhörte. Dann stieg er über den Kadaver hinweg, ging zum Stall, stellte das Gewehr ab und griff nach einem Spaten, der daneben an der Bretterwand lehnte.
    Alles niederbrennen, dachte Waltraud angewidert. Alles!

16
    A uf der Rückfahrt von Weiden regnete es noch immer in Strömen. Die Scheibenwischer ihres alten VW-Busses taten, was sie konnten, aber unter Begleitgeräuschen, die sie beunruhigten. Zwischen den Schlieren erkannte sie gerade mal, wenn Bremslichter vor ihr hellrot aufleuchteten, und bisweilen eine Straßenmarkierung. Wo sollte sie jetzt nur hinfahren? Nach Hause zu Frau Anhuber? Ausgeschlossen. Sie würde sie mit Fragen überschütten. Und was sollte sie dort tun? In ihrem Dachzimmer herumsitzen und warten, bis es Nacht wurde? Es war halb sechs, zu früh, um zu Abend zu essen. Außerdem hatte sie keinen Hunger. Sie passierte Winklarn, bog falsch ab und fand sich kurz darauf in Muschenried wieder, wo derartige Sturzbäche auf ihre Scheiben prasselten, dass sie Mühe hatte, den Abzweig nach Fahnersdorf zu finden. Ihre Stimmung verdüsterte sich mit jedem Kilometer. Einmal fuhr sie rechts ran, kuppelte aus und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie jetzt nach München zurückfahren würde. Einfach so. Sie könnte ihre Sachen holen, da gab es ja nicht viel. Die im Voraus bezahlte Miete konnte sie verschmerzen. Grossreither würde sie morgen per Telefon mitteilen, dass sie das Praktikum abbrach. Wer könnte ihr schon ernsthaft einen Vorwurf machen? Nach dem, was ihr zugestoßen war. Ja, war es nicht sogar fast merkwürdiger, wenn sie nicht abreiste, das Praktikum nicht hinwarf? War es erstaunlich, dass dieser Dallmann sich über ihren Aufenthalt hier wunderte?
    Die matschige, verwaschene Landschaft jenseits der Autoscheiben erschien ihr jetzt als Ausbund universeller Hässlichkeit. Natürlich war ihr klar, dass sich dort draußen nur ihre elende Stimmung spiegelte, die sie auf die öden Felder projizierte. Landschaften sind niemals hässlich, hatte sie einmal gelesen.

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