Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
nicht«, stammelte sie.
»Nein. Woher auch? Und niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Ich bitte Sie nur, sich Ihre Begegnung mit ihm am Montag aus der Perspektive von Xaver Leybach vorzustellen. Wie aus dem Nichts stehen Sie plötzlich vor ihm: die Tochter des verschwundenen Lehrers, wegen dem er monatelang als Mörder verdächtigt und, wie ich Ihnen versichern kann, sehr intensiv verhört wurde.« Dallmann klopfte zweimal leicht auf einen der Aktendeckel, um seine Worte zu unterstreichen. »Sie tauchen nicht nur plötzlich in seinem Wald auf, sondern Sie stochern auch noch im Boden herum, ähnlich wie die Suchteams es damals auch gemacht haben dürften. Er will Sie vertreiben. Am nächsten Tag sind Sie wieder da. Erneut stochern Sie im Waldboden herum. Sie dürfen nicht vergessen, dass Xaver Leybachs Verstandesfähigkeiten begrenzt waren. Er kann gar keine andere Schlussfolgerung gezogen haben, als dass es wieder losgehen sollte. Man würde ihn erneut verdächtigen, verhaften, verhören.«
Dallmann legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. Anja wusste nicht mehr, was sie sagen oder denken sollte. Sie war hergekommen mit der vagen Hoffnung, diesen Riss in ihrem Leben vielleicht doch noch kitten zu können, diese Sache endlich zu überwinden. Sie hatte eine Erklärung herbeigesehnt, sich gewünscht, über das Schicksal ihres Vaters Gewissheit zu erlangen. Und was war das Ergebnis? Ihre ganzen Mutmaßungen und Ahnungen kamen ihr mit einem Schlag lächerlich vor. Sie blickte beschämt auf die Aktenordner. Diese Protokolle! Sie hatte doch keine Ahnung gehabt. Sie sah unsicher von einem zum andern. Gerlach gab noch immer den stummen Zuhörer ab, während Dallmann sich ein wenig zurücklehnte, offenbar zufrieden mit der Wirkung seiner Ausführungen.
»Was erwarten Sie von mir?«, fragte Anja matt.
»Ich habe größtes Verständnis für Ihren Schmerz, Frau Grimm. Was Ihnen und Ihrer Mutter widerfahren ist, gehört zum Schlimmsten, was einem zustoßen kann. Sie sagen, Sie sind zufällig wieder in diese Gegend gekommen. Ich will Ihnen gern glauben. Aber ich frage mich schon, was wohl in Ihnen vorgegangen ist, als Sie nach zwanzig Jahren den Leybachwald wieder betreten haben.«
Anja schwieg. Irgendwas an seiner Art, Fragen und Unterstellungen ineinanderfließen zu lassen, ließ sie frösteln. Sie wollte das Gespräch mit diesem Menschen so schnell sie konnte beenden und dieses Büro verlassen. Doch etwas in ihr wehrte sich noch.
»Und wenn er es doch getan hat?«, fragte sie. »Warum ist meine Vermutung für Sie denn so ungeheuerlich? Haben Sie den Haingries untersucht? Können Sie wirklich ausschließen, dass mein Verdacht vielleicht doch zutrifft? Sie sagen, Xaver fürchtete neue, ungerechtfertigte Verdächtigungen. Und was, wenn er ganz einfach verrückt ist, aus unvorhersehbaren Anlässen gewalttätig wird? Er hat seine Mutter erschlagen. Haben Sie dafür vielleicht eine Erklärung?«
»Nein, Frau Grimm. Und Sie haben natürlich recht. Xaver war offensichtlich eine Gefahr, und er hat ein furchtbares Verbrechen begangen. Gestern! Doch vor zwanzig Jahren? Angenommen, Ihre Vermutung träfe zu. Warum hat er zwei Jahrzehnte lang keinerlei Auffälligkeiten mehr an den Tag gelegt? Das ist eine extrem lange Latenzphase. Und vorher ist auch nie etwas vorgefallen. Aber damit Sie nicht das Gefühl haben, dass wir Ihr Anliegen nicht ernst nehmen, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Ich werde den Haingries kriminaltechnisch untersuchen lassen. Mit Bodenradar. Das gebietet schon die Pflicht, alle Eventualitäten auszuschließen. Ich habe große Zweifel, dass wir etwas finden werden. Aber ich will nichts unversucht lassen. Und sei es eine noch so kleine Spur. Ich kann Ihnen versichern: Niemand wünscht mehr als wir, den Fall Johannes Grimm endlich abzuschließen.«
»Sie wollen den Haingries untersuchen?«, fragte Anja ungläubig. Nach allem, was sie bisher gehört hatte, hätte sie das zuallerletzt erwartet. »Wann?«
»Sobald es sich einrichten lässt. Nächste Woche, denke ich. Sie werden die Erste sein, die das Ergebnis erfährt. Das verspreche ich Ihnen. Ich nehme Ihr Anliegen sehr ernst. Sie haben einen Verdacht geäußert. Also werden wir ermitteln. Wir tun unsere Arbeit.«
»Danke«, sagte sie matt.
»Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Anja nickte niedergeschlagen.
15
S eit Stunden bellte der Hund. Manchmal vergaß sie den nervtötenden Lärm, weil sie der Inhalt einer Schublade oder der Anblick eines alten
Weitere Kostenlose Bücher