Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Es gibt keine hässlichen Landschaften. Es gibt nur traurige Menschen. Aber das half ihr jetzt auch nicht.
Sie kuppelte wieder ein, lenkte den Bus auf die Fahrbahn zurück und fuhr weiter. Was hätte sie in München denn tun sollen? Zusehen, wie ihre Mutter immer tiefer in Depressionen verfiel? Das Semester begann erst in fünf Wochen wieder. Die meisten ihrer Freunde machten auch irgendwo ein Praktikum oder waren noch im Urlaub. Und schließlich brauchte sie den Nachweis, dass sie das Praktikum absolviert hatte. Sie konnte nicht einfach alles hinschmeißen. Die Einsicht bescherte ihr einen Magenkrampf. Wieder einmal drängte sich ihr die Frage auf, warum sie sich für dieses Studium entschieden hatte. Warum nicht Sport und Biologie auf Lehramt oder so etwas? Warum zog es sie in den Wald? Dass sie nur ein naturwissenschaftliches Fach studieren würde, war ihr immer klar gewesen, und diese Entscheidung stellte sie auch nicht in Frage. Aber warum nicht einfach Chemie oder Biologie? Warum ein Studium, das sie an Orte wie diesen hier binden würde?
Ursprünglich hatte sie Medizin studieren wollen, aber mit ihrem durchschnittlichen Abitur keinen Studienplatz bekommen. Sie hatte herumgejobbt und dann eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Sport zu studieren. Da sie den dafür geforderten Notendurchschnitt ebenso wenig vorweisen konnte, hatte sie sich die Wartezeit mit Lehrgängen verkürzt, ihr Skilehrerdiplom erworben und mehrere Klettertrainings absolviert. Das hatte ihr zwar großen Spaß gemacht, aber leider auch dazu geführt, dass ihr die Vorstellung, ihre Lebenszeit in einem Gymnasium zu vergeuden, auf einmal unerträglich schien. Als Ärztin könnte sie überall arbeiten, dachte sie. Also war ihr die Idee gekommen, die Wartezeit auf den Medizinstudienplatz für eine MTA-Ausbildung zu nutzen, bis ihr im dritten Jahr klarwurde, dass es im Grunde gar nicht die Humanmedizin war, die sie interessierte. Sie liebte die Natur. Das Gebirge. Den Wald. Biologische Wirkmechanismen faszinierten sie. Warum wuchs hier dies und dort das?
Die ersten Häuser von Waldmünchen erschienen zwischen den Regenschleiern. Ihr letzter Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie schaltete herunter, fuhr langsam weiter und versuchte der Frage nachzuspüren, die ihr da soeben in den Sinn gekommen war.
Warum wuchs hier dies und dort das?
Das Forstamt lag verlassen da. Nirgendwo brannte Licht hinter den Fenstern, und die Parkplätze waren unbesetzt. Sie fuhr so nah wie möglich an den Eingang heran. Obwohl es nur ein paar Meter waren, die sie zu Fuß zurücklegen musste, war sie klatschnass, als sie die Tür endlich aufgesperrt und das Innere des Hauses betreten hatte.
Sie machte das Licht im Flur an, ging in das Büro, in dem sich ihr vorübergehender Arbeitsplatz befand, schaltete den Computer ein und nutzte die zwei Minuten, die er zum Hochfahren brauchte, um sich abzutrocknen.
Sie war noch nie alleine hier gewesen. Sie wusste auch nicht so recht, ob es überhaupt erlaubt war. Aber sie würde einfach sagen, sie habe ihre Fehlzeit nacharbeiten wollen oder so etwas. Es war unwahrscheinlich, dass jetzt noch jemand zurückkommen würde. Das Amt schloss üblicherweise gegen siebzehn Uhr. Grossreither wäre längst zu Hause bei seiner Familie. Die andern verschwanden sogar meist schon vor ihm.
Sie nahm am Computer Platz, steckte die Diskette ein, auf der sich das Kartierungsprogramm befand, und führte die Befehle aus, damit der Rechner es hochlud. Die Prozedur dauerte eine Weile, aber schließlich erschien die Maske, in die sie die Bodendaten eingeben konnte, und sie griff nach den Datenblättern in der Ablage. Es war beruhigend, einfach nur Daten einzupflegen. Die eintönige Beschäftigung vertrieb unliebsame Gedanken. Das Kühlaggregat des Rechners rauschte, manchmal summte die Festplatte, aber die Geräusche störten sie nicht. Im Gegenteil. Waldeinsamkeit hätte sie jetzt nicht ertragen. Insofern kam es ihr sehr zupass, dass es heutzutage Instrumente gab, mit denen man den Wald auch an einem Bildschirm untersuchen konnte.
Nach einer Dreiviertelstunde hatte sie die Daten der letzten Proben in die Datenbank eingegeben. Der gerasterte Flächenplan, nach dem sie und Obermüller vorgegangen waren, lag neben ihr. Alle Punkte waren durchkreuzt, der Leybachforst war komplett kartiert.
Sie hatte mit diesem Kartierungsprogramm noch nicht oft gearbeitet, und es dauerte eine Weile, bis sie herausgefunden hatte, wie man aus den Daten Standortkarten
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