Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
erzeugte. Aber nach einigem Herumsuchen in den Menüs fand sie die entsprechenden Befehle. Unförmige Flächen in verschiedenen Grautönungen erschienen auf der topographischen Maske. Sie spielte mit den Einstellungen herum, zoomte heran und heraus und veränderte Parameter. Aber was sie auch tat: In jedem Darstellungsmodus hob sich auf der Fläche im Haingries eine Stelle als störender Punkt auf der ansonsten homogenen Fläche ab: Einschlagnummer 25.
Sie zoomte die Karte auf die doppelte Größe und musterte die Umgebung. Der Haingries war die einzige Lichtung im gesamten Leybachwald. Warum hatte man sie angelegt? Und wann? Sie beendete das Programm, was fast zwei Minuten dauerte, wartete geduldig, bis das Laufwerk mit einem schabenden Geräusch die Diskette auswarf, verwahrte sie sorgfältig und ging zum Kartenschrank. Ob man irgendwann wohl auch Luftbilder auf einem Monitor sehen würde?, fragte sie sich, während sie die Aufnahmen der letzten Jahre durchforstete. Verglich man die Besatzdichte der umliegenden Forste, so war der Leybachwald in jedem Fall etwas Besonderes. Er hatte eine gänzlich andere Struktur. Was ja auch nicht verwunderlich war nach allem, was Grossreither darüber gesagt hatte. Keinerlei Bewirtschaftung. Fast ein Bannwald im Dornröschenschlaf. Aber warum dann diese störende und sinnlose Wildwiese mittendrin? Aus welchem Anlass war sie angelegt worden? Es gab doch jede Menge freie Jagdflächen in der näheren Umgebung.
Sie sah sich im Zimmer um. Wo befanden sich wohl die älteren Bestandskarten? Vielleicht im Nebenraum? Sie öffnete die Verbindungstür zum nächsten Büro und ging an den Regalen entlang. Aber dort standen nur Aktenordner. Es war kein Regal vorhanden, auf dem Kartenrollen Platz gefunden hätten. Da fiel ihr der Archivraum ein. An ihrem ersten Tag hatte Grossreither sie doch im Haus herumgeführt, sie den anderen Mitarbeitern vorgestellt und ihr die Räumlichkeiten gezeigt. Dabei waren sie auch im Keller gewesen – nach der Besichtigung der Wildkammer. Sie ging in den Flur hinaus zum Schlüsselbrett, das im Sicherungskasten untergebracht war, fand den Archivschlüssel und stieg die Treppe in den Keller hinunter. Als sie unten angekommen war, blieb sie kurz stehen. Durfte sie hier einfach in alten Akten wühlen? Aber warum eigentlich nicht. Bestandskarten und Nutzungspläne waren ja wohl nicht geheim. Sie überlegte, was sie zu ihrer Erklärung vorbringen würde, falls sie jemand hier unten überraschen sollte, aber es fiel ihr nichts ein. Studentische Wissbegier eben. Und wer sollte um diese Zeit schon ins Forstamt kommen? Es war mittlerweile fast acht. Die wären alle beim Abendessen. Alles war still. Sie war völlig alleine hier.
Sie ging den Kellergang entlang an drei Metalltüren vorbei, hinter denen sich die Archivräume befanden, und öffnete zunächst Raum I. Aber dort stand nur Gerümpel herum. Der zweite Raum war schon vielversprechender. Ein ganzes Magazin von Kartenrollen lag übereinandergeschichtet in einem mächtigen Metallregal, das von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke reichte. Sie begann, die teilweise durch Staub unleserlich gewordenen Beschriftungen zu entziffern. Die Bestandspläne deckten den Zeitraum bis in die Mitte der siebziger Jahre ab. Sie zog eine versiegelte Rolle heraus, wischte den Staub ab, las das Datum und die Gemarkungsnummer, schob die Rolle zurück und überprüfte die nächste. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie endlich eine Bestandserfassung für die Gemarkung Nord Ost LLX 34 gefunden hatte. Sie stammte aus dem Jahr 1975. Sie zog die Rolle komplett heraus, ging weiter und suchte als Nächstes die entsprechende Rolle aus dem Jahr 1985. Als sie sie gefunden hatte, ging sie in den Vorraum, wo ein großer Kartentisch stand, öffnete die Rollen und zog die Karten heraus. Sie musterte Blatt für Blatt, bis sie schließlich die Blätter für den Haingries aus den Jahren 1975 und 1985 in den Händen hielt. Sie legte sie nebeneinander und sah sofort, wonach sie gesucht hatte. 1975 hatten im Haingries noch durchgängig achtzigjährige Fichten gestanden. Zehn Jahre später waren sie verschwunden.
Sie rollte die Bögen zusammen, schob sie in die Kartonrollen zurück und legte sie wieder im Archivraum ab. Bestandsverzeichnisse wurden nur alle zehn Jahre erstellt. Gab es nichts Genaueres? Sie schloss die Tür zu Raum II und betrat den nächsten Kellerraum, der ebenfalls ein Archiv enthielt. Sie musterte die Aktenrücken. Buchhaltung.
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