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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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nicht alle ihre ehemaligen Mitschüler in den zehn Jahren, die seit dem Abitur vergangen waren, so stark verändert, doch umso erschreckender empfand sie daher Fälle, wo die Verwandlung bereits erheblich war. Sie war auf die nächstbeste Toilette geflohen, um zu überlegen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte, und hatte sich auch mehrmals prüfend im Spiegel gemustert.
    Interessant war zu beobachten, wer seine alte Rolle sofort wieder einnahm und wer nicht. Anja war die Beste im Sport gewesen, ansonsten eher durchschnittlich und ohne erkennbare Talente oder besondere Fähigkeiten. Sie war nie Klassensprecherin gewesen, aber ihr Urteil galt etwas. Die Tatsache, dass sie Halbwaise war, mochte damit etwas zu tun gehabt haben. Es verlieh ihr eine gewisse tragische Autorität. Wer konnte schon einen spurlos verschwundenen Vater vorweisen? Nie sprach jemand darüber, aber es war allgemein bekannt, dass die Frau, die zu Elternabenden oder sonstigen Schulanlässen erschien, stets alleine kam und dass über das Schicksal von Anjas Vater kein Mensch etwas Genaues wusste.
    Die einzigen beiden Schulfreundinnen, mit denen Anja noch Kontakt hielt, waren nicht gekommen. Sie studierten in Hamburg und Berlin, und der Weg war ihnen zu weit gewesen. Insofern hätte sie sich den Abend tatsächlich schenken können. Aber sie blieb doch bis kurz nach elf, plauderte vor allem mit ihrem ehemaligen Sportlehrer, der es nicht fassen konnte, dass sie nicht Sport auf Lehramt studiert hatte, was doch bei ihr wirklich das Nächstliegende gewesen wäre. Vor allem schielte er ziemlich oft zu ihrem Ausschnitt hin. Das enge schwarze Kleid, die schwarzen Strümpfe und das leichte Make-up, das sie nach einem kurzen Zwischenstopp zu Hause in aller Eile aufgelegt hatte, ließ ihre Försterinnen-Story wahrscheinlich in einem ziemlich unrealistischen Licht erscheinen, und als sie das Fest wieder verließ und sich im Fahrstuhl im Spiegel betrachtete, hatte sie selbst Schwierigkeiten sich vorzustellen, dass sie nach diesem Wochenende wieder mit Obermüller im Wald herumkriechen würde.
    Sonja war noch auf, als sie nach Hause kam. Sie hatte es sich am Kamin bequem gemacht, die Füße auf einem Hocker ausgestreckt und ein Buch über Endokrinologie auf dem Schoß. Sie legte es zur Seite, als Anja hereinkam, und erstattete ihr jetzt etwas ausführlicher Bericht über die neusten Entwicklungen.
    »Essen ist nach wie vor mühsam«, sagte sie. »Man muss sie regelmäßig daran erinnern, und es fällt ihr einfach schwer. Das kann aber auch an den Medikamenten liegen.«
    »Spricht sie? Erzählt sie, was sie beschäftigt?«
    »Nein. Aber ich habe das Gefühl, dass sie über meine Anwesenheit zumindest nicht unglücklich ist.«
    »Du weißt ja nicht, wie sehr mich das beruhigt, dass du hier bist.«
    »Doch. Kann ich mir gut vorstellen. Es muss eine furchtbare Sorge sein, und ich bin froh, dass ich helfen kann. Außerdem hilfst du mir ja auch. Schau.« Sie deutete auf einen Stapel Skripte, die neben ihr auf dem Boden lagen. »Das habe ich alles schon zweimal durch.«
    Der Stapel sah beeindruckend aus. »Glykogenstoffwechsel/ Gluconeogenese«, stand auf dem obersten Skript.
    Sonja war eine der Ersten gewesen, die sich auf ihre Anzeige hin gemeldet hatte. Ein Glücksfall, wie sich bald herausstellte. Anja hatte rasch jemanden finden müssen. Die Alternative wäre gewesen, ihre Mutter in irgendeine Institution einzuweisen, wo sie dauerhaft überwacht wurde. Und das kam absolut nicht in Frage. Aber sie konnte ja nicht vierundzwanzig Stunden am Tag zu Hause anwesend sein. Bei Sonja war ihr nach dem ersten kurzen Gespräch sofort klar gewesen, dass sie die ideale Kandidatin war. Sie brauchte einerseits Geld, außerdem suchte sie einen Rückzugsort, um ungestört büffeln zu können. Dafür war das Haus in Planegg ideal. Es gab genügend Platz. Die Einliegerwohnung, in der mehrere Generationen von Kindermädchen gelebt hatten, bis Anja alt genug gewesen war, stand seit Jahren leer. Sonja war Anfang Juli eingezogen. Anja hatte ihrer Mutter erklärt, sie sei eine Studienfreundin, die ein paar Monate bei ihnen wohnen würde, um in Ruhe lernen zu können, und ihre Mutter hatte weder Fragen gestellt noch irgendeine Form von Widerstand dagegen geleistet, dass eine fremde, dritte Person im Haus war.
    Anja zog ihre Pumps aus, ließ sich in den Sessel neben dem Feuer fallen und schob ihr Kleid über die Knie hinauf, um bequemer sitzen zu können.
    »Wie war das

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